Strahlentherapie

1/12

Auf einer Sonnenbank erkennt man an heller Haut, wo ein paar zusätzliche Strahlen gut täten, und an roten Flecken, wo es schon ein paar zu viel waren.
Bei einer Strahlentherapie würde das so ähnlich vermutlich auch funktionieren.
Nur ganz sicher nicht sehr oft.
Deshalb wird bereits im Vorfeld genau festgelegt, welche Bereiche meines Gehirns etwas Sonne brauchen, und welche nicht. 
Eine CT- Aufnahme meines Kopfes hilft dabei.
Alle sagen „CT“.
„Röntgen“ höre ich nicht so oft.

Wenn ich das richtig verstanden habe, ist die „Computertomographie“ aber nichts anderes, als Röntgen mit Computerunterstützung.
Das ist mir recht.
Hauptsache, die Zielbestimmung der Bestrahlung haut hin.

Wäre doch echt schade, wenn die Bomben das falsche Ziel treffen würden.
“Ups, wir haben versehentlich Ihren Sehnerv bestrahlt, und nun sind Sie blind“, ist eine der Nachrichten, die ich nicht auch noch brauchen kann.
Also finde ich es völlig in Ordnung, ja geradezu erfreulich, daß man es mit der Zielbestimmung der anstehenden Bestrahlung so wichtig nimmt.
Das Bild, das der Computertomograph erzeugt, zeigt, wie nicht anders zu erwarten, ein großes Loch in meinem Gehirn.
Das ist, entgegen meiner Erwartung, aber gar nicht von wirklicher Bedeutung.
Außer einem Loch ist da nämlich nichts.

Viel bedeutsamer ist das Geschehen rund um das Loch herum!
Dorthin, so vermutet bzw. weiß man, haben sich all die Tumorzellen verdrückt, die rechtzeitig flüchten konnten, als es in meinem Kopf für kurze Zeit hell wurde. Alle anderen hat der Operateur bereits eingetütet, und an die deutsche Tumor- Datenbank verschickt.
Jetzt sitzen diese hinterhältigen Biester um das Loch in meinem Hirn herum und machen Pläne, wie es weiter gehen soll.
„Zurück ins Loch macht keinen Sinn!“, höre ich Ihren Anführer rufen.
„Wir müssen in die andere Richtung, weg vom Loch!“
Weg vom Loch?
Schon klar.
Noch während die verbliebenen Tumorzellen sich neu orientieren und Eroberungspläne schmieden, machen meine Ärzte und ich die Waffen scharf.
Wir werden mit Energiestrahlen und aller Grausamkeit gegen sie vorgehen!
Das gefällt mir.
In den folgenden Wochen werde ich in meiner Vorstellung verzweifelte Tumorzellen sehen, die, wohin sie sich auch wenden, verbrannt und zerfetzt werden.
Toll.

Narben

2/12

Meine Haare wachsen schnell.
Seit ich sie für die OP abrasiert habe, was vor etwa vier Wochen war, sind sie wieder deutlich zu sehen.
Weil das Ganze von einem Haarschnitt weit entfernt ist, sehe ich einfach furchtbar aus!
Mutete die Glatze noch martialisch, bisweilen sogar männlich an, mein Dreitagebart auf dem Kopf, lässt jeden Charme vermissen.
Vor allem die Narbe, ist jetzt noch deutlicher zu sehen.
Im Krater wächst nämlich nichts mehr.
„So sehe ich beschissen aus“, denke ich, und gehe zum Friseur.
Ich suche mir einen Salon aus, der im Schaufenster mit der Anfertigung von Perücken auf sich aufmerksam macht.
Die kennen sich mit Glatzen aus.
Als ich eintrete, stehe ich drei neugierig aufschauenden Friseurinnen gegenüber, keine viel älter als vierzehn, keine schwerer als mein linker Arm.
Da alle drei gleich inkompetent auf mich wirken, spreche ich die Nächststehende an:
„Ich hätte gern eine Haarverlängerung!“
Ich schlage meine Kapuze zurück, im Freien sind es heute 23 Grad minus, mein rechter Zeigefinger weist auf meine gut und gern drei Millimeter lange Haarpracht.
Barbie folgt meinem Finger mit den Augen, legt ihr arrogantes Lächeln ab und wendet sich ihrem Kompetenzteam im Hintergrund zu.
„ Das ist doch was für Frau…“
Den Namen habe ich vergessen.
Was „das“ ist, weiß ich bis heute nicht.
Immerhin sind jetzt auch die Kundinnen im Raum auf mich aufmerksam geworden.
Ich fühle mich wie ein Tanzbär und will wieder gehen.
„Kann ich Ihnen helfen?“
Sie hat ihren Namen gehört, und ist vom Kaffee aufgesprungen.
Sie sieht nett aus, und mich nett an.
„Ja, das können Sie.“
Ohne ein weiteres Wort schlage ich meine Kapuze ein weiteres Mal zurück.
„Kommen Sie“, bittet sie mich auf einen der leeren Plätze.
Sie ist nicht verlegen, als sie meinen Hinterkopf sieht.
Die Narbe.
„Gestern hatte ich eine Auseinandersetzung mit meinem erwachsenen Sohn und dachte bis eben, ich hätte Probleme. Wenn ich Sie jetzt sehe, komme ich mir richtig albern vor.“
Sie fährt mit dem Finger die Narbe entlang, findet noch zwei drei andere Blessuren aus Kindertagen und schaut mir im Spiegel in die Augen.
„Alles runter?“
Alles runter.
Als ich gehe, gebe ich ihr zehn Euro Trinkgeld.
Barbie beobachtet das mit versteinertem Gesicht.
Mann, ist das kalt heute.

Grey

3/12

Der Tumor war so groß wie ein kleines Ei.
Das Innere vom Tumorei wurde entfernt, die Schale aber blieb in meinem Kopf.
So wollte man möglichst vermeiden, daß ich, durch eine allzu großzügige Entfernung von Teilen meines Gehirns, den Tumor zwar überlebe, aber blöd bin.
Oder gelähmt.
Oder beides.
Mit der Tumoreischale in meinem Kopf, wird sich das auf Dauer aber auch nicht vermeiden lassen.
Also muß die raus.
Anfangs gefällt mir, daß man dafür keine Messer benutzt, sondern unsichtbare Strahlen.
Was ich nicht sehe, macht mir keine Angst.
Dass ich mir in den nächsten Wochen wünschen werde, die Strahlen sehen zu können, weiß ich da noch nicht.
„Wir werden Sie mit etwa 60 Grey bestrahlen.“
Er ist Professor und mein Chefbestrahler.
„Weil wir die Nebenwirkungen so gering wie möglich halten wollen, und weil sich gezeigt hat, daß viele kleine Einzeldosen eine bessere Wirkung erzielen, als eine große, werden wir Sie dafür etwa 32 mal bestrahlen, jeweils mit etwas weniger als 2 Grey.“
Ich sehe ihn an, als würde ich jeden Tag ein, zwei Grey an der Tankstelle um die Ecke holen. 
Klar.
Grey.
60.  
Nebenwirkungen.
Klar.
Ich bin voll im Arsch!

Besetzt

4/12

Obwohl niemand mir das Autofahren verbietet, fasse ich vorerst kein Lenkrad an.
Um zur Bestrahlung nach Halle zu kommen, nehme ich für die 450 km Anfahrtsweg die Bahn.
Als ich nach über zwanzig Jahren erstmals wieder einen Zug betrete, bin ich unglücklich.
Meine Mitreisenden sind freiwillig hier.
Und kennen sich aus.
Ich kann meinen Koffer schlecht heben, mein Anorak, mein Rucksack entgleiten mir mehrmals, als ich sie ablegen will.
Die linke Hand fehlt mir hier an allen Ecken und Enden.
Die anderen im Wagon starren mich an.
Was hat der für ein Problem?
Schnell setze ich mich auf den ersten freien Platz.
„Da werden Sie nicht lange sitzen können!“
Ein älterer Mann zeigt in der wohl weltweit gültigen „Ich-weiß-was-Haltung“ und mit ausgestrecktem Zeigefinger auf einen Punkt kurz über meinem Kopf.
„Der Platz ist reserviert!“
Gerade der Bühne entkommen, stehe ich wieder im Gang.
„Oldenburg“, steht da.
Ich kombiniere in einer mich selbst verblüffenden Geschwindigkeit, dass in Oldenburg jemand diesen Sitz für sich beanspruchen wird.
„Bis Oldenburg ist der Platz frei!“ sage ich, so laut, daß alle in Sichtweite es hören können.
Noch Minuten später liegen die nicht ausgesprochenen Worte „Du Klugscheißer!“ in der Luft.
Ich setze mich mit größtmöglicher Gelassenheit und sehe triumphierend um mich.
Wer meint, ich hätte vom Bahnfahren keine Ahnung?
Niemand beachtet mich, selbst der Mahner auf der anderen Seite des Ganges hat mich vergessen.
Als der Zug anfährt, bin ich durchgeschwitzt und allein.

Erdrutsch in Uganda. Mindestens 86 Tote.

Zeitreise

5/12

Oh mein Gott!
Ein großer, überheizter Flur voller Menschen.
Die meisten sind deutlich älter als ich.
Einige sitzen nur da, haben die Augen geschlossen.
Andere starren auf den Fußboden oder blättern durch eine Zeitschrift.
Alle sehen krank aus, einer hustet röchelnd.
Ein leises Murmeln liegt in der verbrauchten Luft.
Mein Eintreten wird nur von den wenigsten registriert.
Eine überfüllte Bahnhofshalle in Ostpreußen kurz vor Kriegsende.
Menschen, die warten.
Auf ihre Evakuierung, Ihren Transport.
Diese hier warten auf ihre Bestrahlung, und ich werde mich zu Ihnen setzen müssen.
Am ersten Tag meiner Strahlentherapie.

Kitsch

6/12

Niemals zuvor gehe ich soviel spazieren, wie in diesen Tagen.
Ich habe wenig zu tun.
Nein, ich habe viel zu tun, brauche dafür aber nur einen Bruchteil des Tages.
Und so ziehe ich nach meinen Bestrahlungen durch die Straßen und schlage die Zeit tot.
Schon an einem der ersten Tage fallen mir die vielen Geschäfte auf, die Mobilfunkverträge verkaufen.
Ich zähle zwölf Stück davon allein in der Fußgängerzone.
Und jede Menge Nagelstudios.
Handys, Nagelstudios, Spielhallen.
Die ganze Stadt scheint daraus zu bestehen.
Ein einziger Buchladen in all der Tristesse.
Durch das Schaufenster hindurch kann ich auf einen Ständer voller Postkarten sehen.
Kitsch.
Kunden drehen den Ständer, lachen.
„Das Leben ist wie eine Pusteblume. Am Ende fliegt jeder für sich allein.“
Ich gehe in das Geschäft und kaufe die Karte.

Schuhe

7/12

Mit nur einer Hand, kann ich keine Schleife binden.
Es ist mir unangenehm, andere darum zu bitten, mir die Schuhe zu schließen.
Eine Dauerlösung ist das nicht.
Seit Wochen hat es geschneit, die Temperaturen sind selten über dem Gefrierpunkt.
Ich brauche warme Winterschuhe ohne Schnürsenkel.
Einen russisch sprechenden Papageien zu finden, der mir vorliest, wäre wohl einfacher.
Zumindest sieht die Angesprochene mich an, als hätte ich genau danach verlangt.
Dass man als Schuhverkäuferin kein Abitur braucht, habe ich vermutet. Dass man für diesen Beruf besonders doof sein muß, nicht.
„Winterschuhe ohne Schnürsenkel?“
Sie wiederholt es laut, damit alle im Verkaufsraum es hören können.
Ich stehe in dem Laden mit den Wolfspfoten über dem Eingang und bringe mit meinem Wunsch das komplette Personal zum Lachen.
„Haben Sie dann wenigstens Hosen mit Hosenträgern?“
Anstatt nach einer Antwort, suchen alle nach der versteckten Kamera.
Schuhe ohne Schnürsenkel, Hosen ohne Knöpfe und mit Hosenträgern?
Das kann nur ein Scherz sein!
Ich lasse mir mein Lachen einpacken und gehe.

Es gibt sie

8/12

„Ein Freund von mir hatte einen Schlaganfall. Ist letztes Jahr noch mit uns geklettert.“
Sie kniet sich hin, um mir die Schuhe zu schließen.
„Der hat das gleiche Problem.“
Während sie mir von ihrem Freund erzählt und von ihrer Liebe zur Natur, zieht sie einen der Schnürsenkel durch ein Teil, das mir bekannt vorkommt.
„Das haben Kinder an ihren Anoraks,“ beantwortet sie meinen fragenden Blick.
„Sieht zwar etwas komisch aus, sollte aber funktionieren.“
Ich greife mit meiner intakten Hand beide Enden des Schnürsenkels und ziehe kräftig daran.
„Zu!“, strahlt sie.
Es gibt sie, die kleinen Wunder und Menschen, die sie möglich machen.
Einer davon kniet immer noch vor mir und freut sich.
Sie ist Schuhverkäuferin.

Tot sein

9/12

In den ersten Tagen nach der OP denke ich nicht ans Sterben.
Mich beschäftigt, wie es sein wird, tot zu sein.
Jede Minute meines Denkens ist voll davon.
Werde ich in wenigen Tagen in einer engen Kiste fast zwei Meter tief in der Erde liegen, oder zu Asche verbrannt in einer Urne?
Beides macht mir Angst.
Die Angst vor einem nicht endenden Alleinsein martert mich.
Ich versuche, nicht daran zu denken, lenke mich ab.
Die Lähmung meiner linken Hand, mein Spiegelbild und die Orte, an denen ich mich aufhalte, machen ein Vergessen unmöglich.
Ich erwache mit Todesangst, verbringe den Tag voll davon, und nehme sie abends mit in mein dunkles Zimmer.
Das Karussell meiner Gedanken dreht sich schneller und schneller, kein Halt, keine Pause.
Ich denke daran, mir das Leben zu nehmen.

Stille

10/12

Ich sitze mit der Krankenschwester, die ich nicht leiden kann, und die auch mich nicht leiden kann, im Wartebereich der Strahlenklinik.
Wegen der räumlichen Enge sitze ich direkt vor der Rezeption.
Sie dahinter.
Beide schweigen wir an diesem frühen Freitag Morgen.
Wie immer, wenn wir uns begegnen.
Diese Stille zwischen uns, bringt mich um.
„Ich würde Ihnen gern etwas erzählen.“
Sie schaut überrascht auf.
„Wenn Sie mal einen Patienten haben, der sehr verzweifelt ist, dann schicken Sie den bitte zur Psychotherapeutin hier im Haus. Mir hat sie sehr geholfen.“
Unsere Augen begegnen sich und ich bin überrascht, was ich in ihren sehe.
„Als ich sehr verzweifelt war, bin ich zu ihr gegangen und jetzt geht es mir besser.“
„Dann werde ich sie um Hilfe bitten.“
Pause.
„Bei meiner Mutter wurde vor ein paar Tagen Lungenkrebs festgestellt.“
Pause.
„Und, na ja, ich arbeite hier …”

Wieder im Spiel

11/12

„Der Tumor wird Sie, nach meiner Einschätzung, in den nächsten drei bis fünf Jahren nicht umbringen.“
Er sagt es ruhig, unaufgeregt.
Seine Worte stocken nicht, sein Ton ist gleichbleibend neutral.
Er lügt nicht.
Er ist Professor der Radiologie und hat meine Bestrahlung organisiert, die heute, nach 34 Einzelbestrahlungen mit jeweils etwas weniger als 2 Grey Strahlungsdosis, beendet sein wird.
Ich bin vor Freude sprachlos, kann das Gehörte kaum fassen.
Drei bis fünf Jahre?
Eine Ewigkeit!
Ich sehe ihm tief in die Augen, er weicht meinem Blick nicht aus.
Er meint, was er sagt.
Drei bis fünf Jahre, in denen ich an allem Möglichen sterben kann, wohl aber nicht am Tumor in meinem Kopf.
Ich bin wieder im Spiel!
Ich darf wieder Angst davor haben, überfahren zu werden oder mit dem Flugzeug abzustürzen.
Wie schön das Leben doch ist.
Drei bis fünf Jahre.
Gründe genug, um mir meine letzten Grey abzuholen …

Klopfen

12/12

Er sitzt mir gegenüber und umschließt mit der rechten Hand seinen Hals.
Ich schätze, daß er etwa so alt ist, wie ich es bin.
Unter seiner Hand ist das schmatzende Blubbern eines Luftröhrenventils zu hören.
In diesem mit Menschen überfüllten Warteraum ist es ihm unangenehm, wenn er den sich ansammelnden Schleim abhusten muß.
Alle schauen weg, hören weg, blättern, scheinbar gefesselt von dem, was sie sehen oder lesen in den speckigen Zeitschriften in ihren Händen.
Ich höre genau hin und als das Zischen und Röcheln für einen Moment aussetzt, sehe ich ihm in die Augen.
„Kehlkopfkrebs?“
Er nickt, dankbar, daß die Stille um ihn aufgehört hat.
„Seit wann?“
„Januar“, formen seine Lippen.
Seit zehn Wochen.
Sein nächster Hustenanfall beendet unser Gespräch für immer.
Ich werde aufgerufen, stehe wenig später allein in einer winzigen Kabine und ziehe mich aus.
Als ich die Tür in Richtung meiner letzten Bestrahlung öffne, tönt es aus dem Lautsprecher an der Decke „Knockin’ on Heaven’s Door“…

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