Diagnose Hirntumor

Eine wahre Geschichte

„Anne!“
Meine Frau liegt an diesem frühen Morgen schlafend neben mir.
Aus Angst, den Satz nicht beenden zu können, schreie ich sie an.
„Ich habe einen Schlaganfall!“
Noch während ich das tue, beschreibt mein gestreckter linker Arm einen großen Bogen, von der Hüfte bis weit über meinen Kopf hinweg.
Ich verfolge ihn mit den Augen, verstehe nicht, was er da tut, verstehe nicht, was gerade geschieht, spüre die Verkrampfung meines kompletten Körpers.
Ein letzter Gedanke, bevor ich mit einem gurgelnden Laut das Bewusstsein verliere.
Ich sterbe.

Nackt

2/10

Eine fremde Frau in meinem Schlafzimmer.
Sie ist nett, kennt sogar meinen Namen, und es stört sie auch nicht, dass ich nackt bin.
Mich aber stört es.
Sehr sogar.
Und ausgerechnet jetzt, komme ich nicht in diesen blöden Schlüpfer!
Hüpfe auf einem Bein vor meinem Bett herum und versuche vergeblich, das andere durch das Stück Stoff in meinen Händen zu stecken.
Jetzt kommt auch noch ein Mann dazu, noch einer, meine Tochter schaut kurz ins Zimmer, alle sind der Meinung, ich solle mich hinsetzen.
Hinsetzen ist eine gute Idee, denke ich.
Dann bin ich zwar immer noch nackt, nur baumelt mein Penis nicht mehr, für alle sichtbar, zwischen meinen Beinen herum.
Also setze ich mich auf mein Bett.
Und jetzt dämmert es mir auch, wer die Fremde in meinem Schlafzimmer ist.
Ihre Kleidung und die Art ihrer Fragen verraten es.

Notarzt

3/10

Sie ist Ärztin, und anscheinend wegen mir hier.
Warum, weiß ich nicht.
Daß sie und ihre zwei männlichen Begleiter mir helfen wollen, tut aber gut.
Dann kann ich wenigstens sitzenbleiben.
Sind ja genug da, falls was zu tun ist.
Noch während ich verstohlen meine Unterhose ordne, und einen weiteren, diesmal sitzenden Versuch starte, meine Blöße zu bedecken, macht die Frau in Weiß dem ein Ende.
„Lassen Sie das mal und legen Sie sich hier auf die Trage. Wir bringen Sie jetzt ins Krankenhaus!“
Das klingt nicht, als hätte ich eine Wahl.
Also tue ich so, als sei es das Normalste auf der Welt, vor einer mir wildfremden Frau und meiner erwachsenen Tochter nackt herumzulaufen, und krabbele auf die inzwischen aufgeklappte Trage.
Wird schon in Ordnung sein, wenn alle das so wollen.
Kaum liege ich, werde ich von den beiden fremden Männern in meinem Schlafzimmer zugedeckt und festgeschnallt.
Endlich nicht mehr nackt!
Wenige Augenblicke später bin ich Passagier eines Krankenwagens, eine Nadel wird mir in den Arm geschoben.
Das fühlt sich gut an, und ich lasse es einfach geschehen.
Gefragt hat mich sowieso niemand.
Mir wird angenehm warm, ich mache meine Augen zu und schlafe ein.

Der Finger in mir

4/10

„Und dieser helle Fleck dort, der gehört da nicht hin?”
Der junge Mann, dem ich diese Frage stelle, hat einen weißen Kittel an und hält das Röntgenbild in seiner Hand gegen das Licht an der Decke.
Beides lässt mich vermuten, dass er Arzt ist und meine Frage beantworten kann.
Und tatsächlich zuckt er nicht ratlos mit den Schultern.
Dafür nickt er leider wissend mit dem Kopf.
„Dieser helle Fleck ist wahrscheinlich ein Hirntumor. Mit Gewissheit können wir das aber erst sagen, wenn wir ein MRT haben.“
So wie er das sagt, klingt Hirntumor wie „Doof-aber-nicht-zu-ändern“ und MRT wie „Fotografieren“.
Ich nehme seinen lockeren Tonfall auf und lache.
„Das ist ja ein Ding! Seit Jahren habe ich eine Höllenangst davor, an Darmkrebs zu erkranken, meine Mutter und meine Oma sind daran gestorben, und jetzt habe ich keinen Krebs im Hintern, dafür aber im Kopf?“
Er nickt.
Nach einem kurzen Zögern meint er, dass man das doch leicht hätte feststellen können, das mit dem Darmkrebs.
„Na ja,“ sage ich, „dazu hätte man mir aber in meinen Hintern gucken müssen!“
Dass meine Scham das nicht zuließ, steht ungesagt im Raum.
Statt vieler Worte greift er in einen Karton, zieht einen Gummihandschuh über und, das kann doch wohl nicht wahr sein, steckt einen seiner Finger in meinen Hintern!
Das Ganze passiert in Sekunden.
Ich erinnere mich an die nackte Tanzeinlage in meinem Schlafzimmer und denke: „Ist jetzt auch schon egal. Dann ist das wenigstens geklärt.“
Tatsächlich spüre ich von der Tastuntersuchung meines Enddarms nicht viel, und freue mich, als es tönt:
„Alles in Ordnung!“
Na bitte.
Darmkrebs habe ich also nicht.
Toll.
Aber hat er nicht etwas von einem Hirntumor gesagt?
Egal.
Hauptsache, er nimmt seinen Finger wieder aus mir raus!
Alles andere wird dann schon werden.

Kaffee im Schritt

5/10

Die Idee, einen großen Pappbecher voll heißen Kaffees, den ich mit den Händen nicht halten kann, in meinen Schoß zu stellen, kommt mir erstmals.
„Eine dumme Idee!“, rufen mir meine nassen und schmerzlich verbrühten Oberschenkel zu. Weil ich auf diesem Platz noch nie gesessen habe, erkenne ich mein eigenes Auto erst, als mein Bruder sich ans Lenkrad setzt und mich fragt, ob alles in Ordnung sei. Was macht der denn hier? „Ja“, sage ich, denn den halb leeren Kaffeebecher in meiner linken Hand spüre ich nicht, und meine seit zehn Sekunden nasse Hose habe ich bereits vergessen.
Ich sehe aus dem Fenster, erkenne das große, gelbe „M“ hoch über uns.
„So, kann weitergehen!“
Die Stimme kenne ich. Meine im fünften Jahr Medizin studierende Tochter setzt sich auf den Beifahrersitz und dreht sich kurz zu mir um.
„Alles in Ordnung?
„Ja“.
Ich habe einen riesigen Kaffeefleck im Schritt, fahre mit meinem Bruder und meiner Tochter auf der Rückbank meines eigenen Autos in dunkler Nacht in Richtung eines mir unbekannten Ziels.
Und finde, dass alles in Ordnung ist.
Bevor ich mir darüber Gedanken machen kann, schlafe ich wieder ein.

Gewissheit

6/10

Als wir mitten in der Nacht in der Uniklinik ankommen, staunt der diensthabende Arzt. Meine Tochter hielt es für das Beste, direkt dorthin zu fahren, und hatte uns telefonisch angekündigt.
Dass wir eine Anfahrt von über 400 km haben würden, hatte sie, aus Sorge abgewiesen zu werden, am Telefon nicht erwähnt.
Mein Krampfanfall, mein „Grand mal“, liegt jetzt etwa achtzehn Stunden zurück.
Achtzehn Stunden, von denen ich nur wenig weiß.
Auch an die Ankunft in der Klinik und das Staunen des Arztes existiert keine eigene Erinnerung. Überhaupt ist Tag zwei meines neuen Lebens in meinen Erinnerungen nur wenig präsent.
Ich vermute, dass dies weniger an dem Untermieter in meinem Kopf liegt als vielmehr an einem der wunderbaren Mittel, die Notärzte mit sich herumtragen.
Ich werde in eine Röhre geschoben, die mir wegen ihrer Enge Angst macht. Heute weiß ich, dass dies ein „MRT“ ist.
Bereits am nächsten Morgen sitze ich meinem zukünftigen Operator gegenüber.
Was auf mich wirkt, als sei es dringend.

Klartext

7/10

Er zeigt auf einen Bildschirm, auf dem so etwas wie das Röntgenbild eines Schädels bzw. eines Gehirns zu sehen ist.
Das erkenne sogar ich.
Und weil er es mir zeigt, und weil in diesem Bild deutlich ein weißer Fleck in der Größe eines kleinen Hühnereies zu sehen ist, bin ich mir sicher, dass dies ein Abbild meines Gehirns ist.
Tatsächlich zeigt er auf den weißen Fleck und sieht mich dabei an.
„Das hier ist der Tumor. Der muss raus!“
Na wenigstens redet er Klartext. Außerdem steckt er mir nicht den Finger in den Hintern. Ein sympathischer Arzt, denke ich.
„Natürlich nur, wenn Sie das wollen!“, fährt er fort.
„Nein, ich werde meinen Tumor behalten, du Arsch!“
geht es mir durch den tumorfreien Teil meines Kopfes.
Und leider auch über meine Zunge.
Jedenfalls der erste Teil.
Er ist kurz verwirrt, erkennt dann aber doch recht schnell, dass ich zu Scherzen aufgelegt bin.
Tumor ist schließlich, wenn man trotzdem lacht!
Um ganz sicher zu sein, dass ich richtig verstanden werde, füge ich dennoch hinzu:
„Holen Sie das Ding raus! So schnell wie möglich! Oder was würden Sie an meiner Stelle tun?“

Sachen ordnen

8/10

„Was würden Sie an meiner Stelle tun?“ wird ab diesem Moment zu meiner Standardfrage, wenn Ärzte eine Entscheidung von mir wollen.
So bringe ich sie dazu, sich in meine Lage zu versetzen, was sich als ziemlich schlau herausstellt.
Denn ausnahmslos alle Ärzte, denen ich so antworte, überlegen sehr genau, was sie mir erwidern. Keine Phrasen, keine gespielte Sicherheit.
Alle Antworten, die ich so einfordere, helfen mir, selbst die schwersten Entscheidungen in kürzester Zeit zu treffen. Wie banal das Leben manchmal ist!
„Ich würde mich schnellstmöglich operieren lassen!“
„Gut, dann operieren Sie mich!“
Nachdem er einen Physiker telefonisch aus dem Urlaub geholt hat, „der muss uns helfen, den Tumor zu lokalisieren“, vereinbaren wir, die Operation am 5. Januar 2010 vorzunehmen. Er und ich, sozusagen.
„Bis dahin würde ich Ihnen empfehlen, Ihre Sachen zu ordnen!“
Ich erspare mir, ihn zu fragen und weiß auch so, dass er an meiner Stelle das Gleiche täte.
Die Sachen ordnen.
Es sind noch drei Tage bis Silvester, als meine Kinder mich noch einmal nach Hause bringen.
Noch einmal?
Ein letztes Mal?
Noch acht Tage bis zur OP.

Silvester

9/10

Der 30. und der 31. Dezember 2009 sind zwei der intensivsten Tage meines Lebens.
Vergleichbar nur mit dem Tag, an dem meine Frau mit dem Motorrad verunfallt und seitdem querschnittgelähmt ist.
Ich funktioniere wie eine Maschine.
Aus Angst, in vielleicht schon wenigen Stunden tot zu sein, spreche ich jeden Gedanken sofort aus.
Später würde ich es vielleicht nicht mehr können.
Ich weise meine Kinder und meine Frau in die letzten Geheimnisse meines Lebens ein.
Verträge, Passwörter, Schulden, Vermögen, die PIN meiner Kreditkarte.
Alles.
Ständig getrieben von der Angst, ich könne etwas Wichtiges vergessen, zeige ich meiner Familie, was bis hierhin mein Leben war.
Jetzt wird es, in nur wenigen Augenblicken, zu einem Teil ihres Lebens.
In den letzten Minuten des Jahres 2009 schreibe ich mein Testament.
Überall auf der Welt wird jetzt gefeiert.
Auch auf Haiti.
Als die Raketen fliegen, ist alles erledigt.
Fast alles.

Verliebt

10/10

Etwas Wichtiges ist noch zu tun.
Wer soll an meiner Stelle für und über mich entscheiden, wenn ich, als Folge der Operation, bleibende geistige Schäden davon trage, wenn ich die Operation zwar überlebe, aber schwer behindert bin?
Für mich kommt dafür nur ein Mensch infrage.
Und so überzeuge ich einen mir bislang fremden Notar davon, sich mit meiner Frau und mir, am Sonntag den 3. Januar 2010, in seinem Büro zu treffen.
Das ist der Tag, an dem ich mich vollständig und endgültig in meine Frau verliebe.
Sie wird ab jetzt an meiner Stelle, jede nur denkbare Entscheidung treffen müssen, auch solche, über die wir an diesen Stunden nicht sprechen.
Als ich die vollumfängliche Vollmacht unterschreibe, ist ein Gefühl tiefer Dankbarkeit in mir.
Ich habe mein Leben mit einem Menschen teilen dürfen, dem ich mich voll und ganz anvertrauen kann, in dessen Händen meine Zukunft besser aufgehoben ist, als in meinen eigenen.
Würde es diesen kalten Morgen im Büro eines Notars nicht gegeben haben, wäre mir dieses Privileg womöglich nie bewußt geworden.
Als wir wieder Zuhause eintreffen, bin ich für alles, was da kommen wird, bereit.
Noch zwei Tage bis zur Operation.

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