Auf Station

1/14

Bei den ersten Schritten ist mir verdammt schwindelig und ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob meine Liebe für eine Nacht nicht doch recht hatte mit ihren Sorgen, meine Mobilität betreffend.
Nachdem ich mich stundenlang über sie aufgeregt habe, kann ich jetzt, auch wenn sie inzwischen wahrscheinlich längst zu Hause schlummert, aber nicht klein beigeben.
Sollte ich tatsächlich umkippen, werde ich mir Sätze anhören müssen wie „Das habe ich doch gleich gesagt!“ oder „ Na, sehen Sie!“.
Und das, soviel ist sicher, wird nicht geschehen!
Also lasse ich erneut erst das eine, dann das andere Bein aus dem Bett hängen und richte mich in nur wenigen Stunden auf.
Und setze mich sofort wieder hin.
Scheiße!
Das wird nichts.
Ich werde also den Rest meines Lebens die Nächte auf einem Duschrollstuhl über einer Toilette zubringen, während sich Annie in Hörweite vor der Tür postiert.
Angesichts dieser Vorstellung neige ich dazu, meine recht geringe Lebenserwartung als tröstlich zu empfinden.
Los, Du alter Sack, steh auf!
Derart selbstmotiviert, richte ich mich ein zweites Mal auf, denke an die sich abzeichnende Alternative, und mache meinen ersten Schritt.
Und meinen zweiten.
Ich klatsche die Toiletenschüsse ab, drehe um, klatsche mein Bett ab, drehe um und werde mutiger.
Schließlich würde es keinen Sinn machen, meine Zukunft damit zu verbringen, zwischen einem Bett und einem Klosett hin- und her zu pendelnd.
Also verlasse ich meine eingenommene Umlaufbahn, und greife beherzt zur Klinke meiner Zimmertür.

Flitzer

2/14

Den Abstecher zur Tür meines Zimmers bereue ich augenblicklich.
Mit der Klinke in der Hand, werde ich nicht zurück ins Bett kommen!
Also werde ich sie loslassen müssen, denke ich.
Dann kann ich sie auch von der anderen Seite aus loslassen. Und schon stehe ich auf dem Flur der Station.
So lang, hatte ich ihn gar nicht in Erinnerung!
Eines ist schon mal sicher: den schaffe ich nicht in einem Stück!
Also beschließe ich, wenigstens bis zum Schwesternzimmer zu gehen, mir dort einen Kaffee zu nehmen, um dann wieder den Heimweg anzutreten.
Meine Beine stimmen diesen Überlegungen nur zögerlich zu.
Sie haben aber keine Wahl, denn die Türklinke liegt nun schon drei Schritte hinter mir.
Fünf Schritte, sechs.
Der Weg zum Kaffee wird kürzer, als der zurück ins Bett.
Das motiviert einerseits, läßt mich andererseits aber vergessen, daß der Rückweg so auch immer länger wird.
Als ich die Kaffeekanne abklatsche, habe ich allerdings nur noch den Rückweg im Auge.
Hilfe!
Als Sofortmaßnahme verzichte ich erst einmal auf den Kaffee und beschließe stattdessen, nicht umzukippen.
Was auch gelingt.
Mit dem Erreichen meiner Zimmertür überströmt mich ein großes Glücksgefühl.
Zimmer-Kaffeekanne-Zimmer.
Was für eine Kleinigkeit ist dagegen Bett-WC-Bett!
Ich beschließe, die neu gewonnene Freiheit zu genießen, und mache mich noch einmal auf den Weg zur Kaffeekanne.
Denn, bei aller Begeisterung ob der Tatsache, auf zwei Beinen gehen zu können: einen Kaffee habe ich immer noch nicht getrunken.
Das hole ich jetzt nach.
Einige Patienten und Besucher, die mir begegnen oder mich überholen, halten gebührend Abstand, was ich meinem Kopfverband zuschreibe.
Ansonsten falle ich unter all den Menschen kaum auf.
„Wir haben hier auch Frauen auf der Station! Ziehen Sie sich bitte etwas an!“
Ich zucke zusammen, blicke an mir herab und bin froh, mich bekleidet zu sehen.
Aber stop mal.
Das ist ja mein OP- Kittelchen!
Ich laufe somit seit knapp einer halben Stunde mit nacktem Hintern über den nicht wenig frequentierten Flur!
Es wird Zeit, meinen Ausflug zu beenden.

Noro

3/14

Wann hast Du das letzte Mal eingeschissen?
Du meinst, das hieße „eingekotet“?
Dann wirst Du also morgens wach und denkst: „Oh, ich habe ja eingekotet.“?
Ich jedenfalls, denke an diesem Januarmorgen meines 51. Lebensjahres: „Frank, Du hast Dich eingeschissen!“
Schlagartig wird mir bewußt, dass ich nicht nur einen Hirntumor habe, sondern in meinem eigenen Kot liege.
Und der stinkt.
Und wie!
Ich vergesse für Sekunden, dass ich eigentlich kaum laufen kann und stürze aus meinem Bett ins Bad.
Denn noch während ich beginne, meine Situation als äußerst unangenehm zu empfinden, droht diese noch viel unangenehmer zu werden!
Also sitze ich in einer Spitzenzeit auf der Toilette und staune nicht schlecht, wieviel Wasser ich durch meinen Hinterausgang abgeben kann.
„Scheiße!“
Ich fasse es kaum, dass ich Angesichts meines nächsten Gedankens sogar lächeln muß.
„Was denn sonst?“
Was in den nächsten Minuten auf dieser Toilette passiert, hat mit dem, was ich bisher davon verstand, allerdings nicht viel zu tun.
Ich scheine mich aufzulösen und durch ein Ventil zwischen meinen Beinen abzufließen.
Das tut keineswegs weh.
Schön ist es aber auch nicht.
Noch dazu mein Bad kein Fenster hat.
Als ich den Vorgang willentlich abbreche, ist das mehr meiner Atemnot geschuldet, denn dem Gefühl, fertig zu sein.
Ich hebe, völlig entkräftet, den Kopf.
Das Gesicht im Spiegel, sollte meines sein.
Es sieht mich mitleidig an und scheint zu sagen: „Du arme Sau! Erst hast Du einen Hirntumor und jetzt auch noch die Scheißerei!“
Ich finde, Hirntumor ist einfacher.

Besuch

4/14

„Oh nein. Nicht schon wieder!“
Nur das kurz aufflackernde Licht hat mir verraten, daß die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde.
Jemand ist in meinem Zimmer.
Ich habe wieder Stunde um Stunde wach gelegen, und bin vermutlich erst vor wenigen Augenblicken eingenickt.
Jetzt bin ich wieder hellwach.
Habe ich geträumt?
„Oh nein. Nicht schon wieder!“
Eine Stimme.
Kein Traum.
Aber, wer ist jetzt, morgens um etwa drei Uhr, in meinem Zimmer?
Vor Aufregung zitternd, suche ich den Schalter für das Notlicht.
Wenn man ihn schon mal braucht, denke ich.
Tatsächlich finde ich ihn nicht und drücke auf alles, was mir zwischen die Finger kommt.
Irgendeines der Lichter in diesem Zimmer, leuchtet plötzlich auf.
Ich bin kurz geblendet und sehe direkt in ein fremdes Gesicht.
Ich sehe große Augen und einen Mund, aus dem Speichel läuft.
Die großen Augen sehen direkt in meine.
Ein Irrer in meinem Zimmer!

Ich auch

5/14

Er ist groß.
Sehr groß.
Seine Haare hängen ihm wirr in die Stirn, seine Hände versuchen fahrig, den Speichel vom Kinn abzustreifen.
„Das ist nicht Ihr Zimmer!“
Er zuckt zusammen.
„Oh nein. Nicht schon wieder!“
Er setzt sich auf den einzigen vorhandenen Stuhl gegenüber der Zimmertür.
Sofort steht er wieder auf, setzt sich wieder. Steht auf, geht in Richtung Tür, geht zurück zum Stuhl.
Sieht mich an, sieht durch mich hindurch.
Setzt sich.
Zwischen ihm und mir ist nur mein Nachtschrank. So groß, wie er ist, habe ich nicht die geringste Chance, sollte er sich auf mich stürzen.
Mein Kopf ist noch immer verbunden, der zentrale Venenzugang in meinem Hals baumelt einladend, herausgerissen zu werden, vor meiner Brust.
Langsam drücke ich den Rufknopf an meinem Bett, den ich erst jetzt endlich sehe, und den ich bisher noch nie verwendet habe.
Sicher sind es nur wenige Sekunden, bis sich eine freundliche Stimme meldet.
„Zentrale. Was kann ich für Sie tun?“
„Auf meinem Zimmer ist ein verwirrter Mann und ich bin allein mit ihm.“
Das ist doch jetzt nicht wahr, denke ich.
Das kann man sich aber auch nicht ausdenken.
„Ich schicke jemanden von der Station vorbei!“
„Schnell“, denke ich, konzentriere mich aber wieder auf meinen Besucher, der meinen Dialog mit der Wechselsprechanlage aufmerksam verfolgt hat.
Als ich sage, daß ein verwirrter Mann in meinem Zimmer ist, stöhnt er auf.
„Oh nein. Nicht schon wieder.“
Schritte nähern sich, die Tür fliegt auf, das Deckenlicht springt flackernd an.
„Ach, das haben wir uns schon gedacht! Du bist das! Was machst Du denn im Zimmer von Herrn Kramer?“
Ich atme tief durch und begebe mich voll und ganz in den Schutz der beiden eintretenden Schwestern.
„Kennen Sie ihn?“, frage ich.
Anstatt einer Antwort, spricht eine der beiden ihn beim Vornamen an.
„Du sollst doch in Deinem Bett sein! Warum bist Du denn nicht in Deinem Bett?“
Er starrt auf seine Hände, starrt in das Gesicht der Schwester, auf seine Hände, auf mich und stöhnt auf.
„Oh nein. Nicht schon wieder!“
Die zweite Schwester wendet sich mir zu.
„Er hat einen Hirntumor.
Vor drei Jahren hat ihm ein Arzt gesagt, daß er noch drei Jahre leben wird.
Jetzt denkt er, seine Zeit ist um.“
Oh Gott!
„Er war Busfahrer“, fährt sie fort.
„Wir kennen ihn noch aus den Anfängen seiner Krankheit.“
Sie zeigt auf den inzwischen Wimmernden und fügt an: „Das war mal ein Baum von einem Mann!“
„Ich habe auch einen Hirntumor…“

Suizid

6/14

Wann immer ich mit einem Suizid konfrontiert werde, bin ich erschüttert.
Das Leben, meine eigene Existenz, sind Wunder, denen ich immer schon mit großem Staunen begegne.
Wert, geschützt zu werden.
Als Kind bin ich Zuschauer, als andere Kinder einen Frosch über dessen Darmausgang mit Hilfe eines Strohhalms aufblasen und dann auf die Gleise einer Eisenbahn setzen.
Die Freude der anderen, als der Zug kommt, ist das Entsetzen in mir.
Noch heute, fast 50 Jahre später, quält mich die Vorstellung, wie ich tatenlos zuschaue.
Ich kann keiner Fliege etwas antun.
Spinnen faszinieren mich, auch wenn ich deren Opfer am liebsten retten würde.
Menschen, die Spinnen mit dem Staubsauger töten, verachte ich.
Nicht deren Phobie stößt mich ab.
Es ist die Art, wie sie damit umgehen.
Winzige Lebewesen, wahre Wunder der Natur, müssen qualvoll sterben, weil vergleichsweise riesige Menschen sich vor ihnen ekeln und nicht einmal danach fragen, warum das so ist.
Überhaupt bemühe ich mich mein Leben lang darum, Leben nicht zu zerstören.
Weshalb auch nie ein Angler aus mir wird.
Einen Wurm aufzuspießen, bringe ich nur einmal fertig.
Für den Rest meiner Kindheit kommt Brötchenteig an meine Haken.
Was aber soll ich mit dem Fisch?
Für meine Kinder will ich an diesem Defizit arbeiten und gehe mit ihnen Angeln.
Den großen Fisch, den wir tatsächlich fangen, lassen wir sofort wieder frei.
Den Rest des Tages rudern wir.
Nach dem Verbleib der Angel fragen mich die beiden niemals.
Ich bin Anhänger der Evolutionstheorie, auch wenn diese nicht alle meine Fragen beantwortet.
Vor allem nicht die nach den Anfängen der Welt.
Ich staune, wie gelassen Wissenschaftler vom Urknall sprechen und sich damit zufrieden geben.
Da ich keine bessere Theorie habe, hilft auch mir dieser Begriff, mich dem Unbegreiflichen zu nähern.
Ich bin fasziniert von der Vorstellung, daß es mich ohne den Urknall und die vielen Milliarden Jahre Evolution nicht gäbe.
Was für ein Glück, das Leben.
Nachdem der nächtliche Besuch eines geistesgestörten Tumorpatienten, mir einen erschreckenden Blick in eine mögliche eigene Zukunft verschafft hat, denke ich dennoch darüber nach, meines vorzeitig zu beenden.
Ich will nicht sabbernd durch dunkle Krankenhausflure irren.
An Selbstmord denke ich dabei nicht, denn natürlich will ich niemanden ermorden.
Auch mich nicht.
Ich denke schlicht darüber nach, mich selbst zu töten.
Vor allem aber, über das Wie.

Schamlos

7/14

„Bevor wir Ihren Stuhl nicht untersucht haben, wissen wir nicht, ob Sie den Noro-Virus haben.“
Schon klar.
Ich scheiße ja auch jeden Tag in mein Bett.
Dass es auf der Station penetrant nach Fäkalien stinkt, ist auch kein Hinweis darauf, dass ich und andere den Virus haben.
Und dass ich verlegt wurde, weil auf der Intermediat-Station das Norvirus grassiert, lässt auch keinen Schluß auf den Grund meiner Probleme zu.
Erst wenn das Vieh dir unter dem Mikroskop zuwinkt, können wir sicher sein.
Schon klar.
Ich hasse diese Frau.
Natürlich weiß ich, daß sie recht hat.
Und sie weiß das auch.
Nur weshalb macht es ihr sichtlich Spaß, mich um 6.05 Uhr mit einem gebrüllten „Guten Morgen!“ aus einem Schlaf zu reißen, in den ich erst vor wenigen Minuten, nach einer auf der Toilette durchwachten Nacht, versunken bin?
„Haben Sie in den Schieber gemacht?“
Mein Tag ist jetzt eine Minute alt.
„Ich hatte keinen Stuhl!“
Eine Lüge. Und alle im Zimmer riechen und wissen das.
Es ist mir egal.
Ich werde dieser Frau nicht hier und nicht jetzt erklären, dass mir zum Kunstscheißen die Kraft gefehlt hat.
Ich werde dieser Frau gar nichts mehr erklären.
Während ich wie ein Haufen Elend, mit nacktem Oberkörper und einem bizarren Verband um den Kopf, in meinem Bett sitze und mich frage, ob ich gerade wieder unter mich mache, steht sie frisch gestylt und selbstverliebt vor mir.
Sicher kann sie es kaum erwarten, sich den nächsten OP – Kandidaten zu schnappen, um vor den anfallenden Stationsarbeiten zu flüchten.
Vorher aber würde sie eine Welle Wind machen und allen zeigen, wie wichtig sie ist.
Das Schauspiel ist so offensichtlich, dass mir davon schlecht wird.
Als Stationsleiterin ist sie morgens um kurz nach sechs der liebe Gott.
Mein Gott ist sie nicht.
Sie kann mich mal.
Noch viel zu benommen, mich auf intellektuell hohem Niveau zu wehren, lüge ich sie frech an.
„Ich hatte keinen Stuhl!“ heißt an diesem Morgen, und alle Anwesenden verstehen das, da bin ich mir sicher,
„Leck mich am Arsch, du dumme Kuh!“
Dass sie schäumend vor Wut mein Zimmer verlässt, zeigt mir, dass auch Sie mich verstanden hat.

Siemens

8/14

Als Patient eines deutschen Krankenhauses bin ich zwei Dingen hoffnungslos ausgeliefert: den Schwestern und der Telefonanlage von Siemens an meinem Bett.
Erstere sind in der Regel intelligent.
Sollte eine Siemens – Telefonanlage von intelligenten Menschen entwickelt worden sein, haben diese das nahezu perfekt verschleiert.
Kein normal denkender Mensch kann diesen technischen Unfug bedienen.
Während sich den meisten Menschen ganze Computersysteme auch ohne Gebrauchsanleitung erschließen, kenne ich niemanden, der ein Siemens-Krankenhaustelefon intuitiv bedienen kann.
Ohne die Gebrauchsanleitung voller Piktogramme kann ich damit nicht einmal telefonieren, geschweige denn den Fernseher bedienen, wie es mir die Zettel in meiner Hand versprechen.
So gucke ich Fernsehprogramme anfangs nicht, weil sie mir gefallen, sondern weil mein Siemens-Telefon mir das Umschalten der Programme erst nach Eingabe eines Codes ermöglicht.
Dabei benötigt jede der Telefonfunktionen einen anderen Code!
Am Tag zwei meines Krankenhausaufenthaltes kapituliere ich.
Ich schiebe meine frisch aufgeladene Telefonkarte im Wert eines Kleinwagens in die Steinzeittechnologie auf meinem Nachtschrank und wähle mit Hilfe der Tastatur den Fernseher über mir an.
Nichts.
Ich versuche noch einmal, das Bilderbuch zu verstehen, das mir Telefon- und Fernsehfunktionen in Aussicht stellt und will wenigstens meine Frau anrufen.
Keine Chance.
Jetzt reicht es mir.
Das iPhone aus der Tasche holen und meine Frau damit anzuwählen, dauert trotz meiner frischen OP-Wunde nur Bruchteile der Zeit, die ich bislang dafür aufgewendet habe, mich an die Krankenhausregeln zu halten.
Überhaupt.
Krankenhausregeln.
Natürlich möchte ich nicht, daß jemand stirbt, nur weil mein regelwidrig eingesetztes Mobiltelefon seine Herz-Lungenmaschine abschaltet.
Nur, glaubt noch irgend jemand auf dieser Welt, daß so etwas wirklich passiert?
Inzwischen darf sogar in Flugzeugen mobil telefoniert werden.
Schwer vorstellbar, daß es denen egal ist, deshalb abzustürzen.
Allerdings haben Flugzeuge auch keine sündhaft teuren und stockdoofen Siemens-Telefonanlagen an Bord, die sich amortisieren müssen.
Ob Siemens-Krankenhaustelefone die Fähigkeiten deutscher Ingenieure abbilden, weiß und hoffe ich nicht.
Daß sie Ausdruck des Unvermögens oder aber der Gier deutscher Krankenhausbetreiber sind, steht für mich hingegen fest.

Fernsehen

9/14

Als berufstätiger Mensch habe ich nur vage Vorstellungen davon, was Fernsehsender nachts ausstrahlen.
Als Krankenhauspatient ändert sich das schnell.
Da ich ohnehin nicht konzentriert zuschaue, lasse ich das Fernsehgerät, nachdem es mir gelungen ist, es mit dem Siemens-System an meinem Bett einzuschalten, auf dem erstbesten Sender an.
So bin ich in meinem dunklen Zimmer mit meinen Gedanken nicht allein.
Als ich mitten in der Nacht wach werde, schreien mich Bilder halbnackter und nackter Frauen im Sekundentakt an, ich lese „dicke Titten“, „geile Früchtchen“ und immer wieder Telefonnummern.
Wenn jetzt eine Schwester in mein Zimmer tritt, habe ich ein Problem.
Das habe ich schon jetzt.
Denn während ich vergeblich versuche, das Fernsehgerät mit dem Telefon auf meinem Nachtschrank auszuschalten, vergehen die Minuten.
Jetzt reicht es mir.
Ich fixiere den Schlauch, der in meine Halsvene führt, mit der linken Hand, bedecke meine Blöße vorerst mit der rechten, verlasse mein Bett und taste nach dem Netzschalter des Fernsehgerätes weit über meinem Kopf,
Den Schlauch in meiner Linken lasse ich dafür auf keinen Fall los!
Gerade fleht mich eine übergewichtige „reife Frau“ an, sie doch mal anzurufen, da stehe ich endlich im Dunklen.
Bitte, lieber Gott, lass jetzt keine Schwester nach mir sehen!
Nicht jetzt!

Schwester U.

10/14

„Als Schwester kann man nicht mit allen Patienten gleich gut!“
Das kann ich mir gut vorstellen.
Sie hat mir Kaffee eingeschenkt, das Bett aufgeschüttelt und jetzt, wo sie meine verweinten Augen sieht, setzt sie sich zu mir aufs Bett.
„Sie konnten wieder nicht schlafen?“
Außer sie scheint das niemanden zu interessieren.
Vor allem nicht Schwester „U“, deren Name mit „te“ endet.
Heute hat diese mir meine Schieberverweigerungshaltung heimgezahlt.
Hat mich nicht laut tösend um 6 Uhr geweckt.
Hat mich einfach schlafen lassen.
Bis um 7.45 Uhr.
Da stehen der Professor und mehrere Ärzte vor meinem Bett, in dem ich, Fernseh schauend, liege.
Ungewaschen, unrasiert.
Asozial.
Hinter der Kohorte frisch aufgeprezelter Ärzte: meine Lieblingsschwester, dienstbeflissen den Kuli in der Hand und ein süffisantes Lächeln auf den Lippen.
Später werde ich jeden einzelnen der anwesenden Ärzte und Ärztinnen aufsuchen und mich für meine vermeintliche Respektlosigkeit entschuldigen.
„Wenn Sie morgens um 6 den Dienst antreten können, u.a. wegen mir, dann kann ich auch meinen Hintern aus dem Bett kriegen.“
Ich erzähle nicht, wie es dazu kam.
Schwester U und ich teilen jetzt ein Geheimnis.
Ich weise meinem iPhone ab sofort die Aufgabe zu, mich zu wecken.
10 Minuten vor Schwester U singt es mir ab jetzt jeden Morgen ein freundliches Lied.
Frisch von der Toilette kann ich kaum erwarten, den Tag mit einem fröhlichen Blick in ihr enttäuschtes Gesicht zu beginnen.
Ab jetzt sehe ich sie nur noch am späten Nachmittag.
Da hat sie die frisch Operierten untere Inkaufnahme ihrer stundenlangen Abwesenheit bereits wieder auf die Station geholt, nehme ich an.

11/14

Rechter Gruß mit links

Der Noro-Virus in mir sorgt dafür, daß ich vorerst ferngesteuert werde.
Bis auf ein paar Todgeweihte betritt niemand mehr mein Zimmer.
Auch die morgendliche Visite nicht.
Tür auf.
Ich habe freie Sicht auf den mit Ärzten überfüllten Flur.
Sie haben freie Sicht auf mein Bett.
Darin: ich.
„Was macht ihr linker Arm?“
Ich weiß, daß mein linker Arm hier niemanden interessiert, meine frisch gewichtsreduzierte rechte Hirnhälfte um so mehr.
Sie könnten mich also fragen, was meine rechte Hirnhälfte so macht.
Weil ich dann vermutlich den linken Arm heben würde, kürzen wir das Ganze ab.
Nach einem Gespräch unter Gleichen sieht das Ganze hier ohnehin nicht aus, also tue ich, was man von mir erwartet:
Ich hebe meinen gestreckten linken Arm bis etwa auf Augenhöhe.
Dann schließe ich die Augen und wundere mich keineswegs, meine Hand wenig später etwa in Schulterhöhe wieder zu finden.
Wenn das jeden Morgen passiert, wundert einen das nicht.
Und weil das jeden Morgen passiert, wird das Heben meines gestreckten linken Armes bis auf Augenhöhe zu einem allmorgendlichen Ritual.
Tür auf.
Hitlergruß eines leicht übergewichtigen Glatzkopfes mit nacktem Oberkörper durch die geöffnete Tür hindurch.
Tür zu.
Fällt eigentlich nur mir die Lächerlichkeit dieser Situation auf?

Pfeile

12/14

Was für eine Frage!
„ Ich soll jetzt und hier entscheiden, wie meine Behandlung weitergeht?“
Wie von mir befürchtet, nickt er.
„Als Chirurg habe ich meine Arbeit getan. Der Tumor ist entfernt. Nur wissen wir aus Erfahrung, daß der Tumor nicht dort endet, wo wir sein Ende erkennen können.“
Ich verstehe.
„Sie sagen mir also, daß der sichtbare Tumor gut entfernt werden konnte?“
„Ja.“
„Und dann sagen Sie mir, daß es wahrscheinlich, höchstwahrscheinlich, Tumorzellen gibt , die so klein sind, daß wir sie nicht sehen können. Und was wir nicht sehen, können Sie auch nicht rausschneiden.“
„Ja.“
„Und jetzt fragen Sie mich, ob ich diese unsichtbaren, aber höchstwahrscheinlich vorhandenen Tumorzellen mit Bestrahlung oder einer Chemotherapie bekämpfen möchte.“
„Ja.“
„Was würden Sie an meiner Stelle tun?“
Der Moment, der bis zu seiner Antwort vergeht, ist zu kurz, als daß er erst jetzt darüber nachgedacht haben kann.
„Ich würde beides tun.“
„Und warum erwecken Sie mir gegenüber den Eindruck, ich müsse mich für eine der beiden Möglichkeiten entscheiden?“
„Weil das die beiden einzigen noch verbliebenen Pfeile in Ihrem Köcher sind!“
Ich verstehe.
„Mit der operativen Entfernung des sichtbaren Tumors haben Sie den ersten von drei Pfeilen verschossen. Mit der Chemo, oder auch mit der Bestrahlung, verschießen Sie den zweiten. Und wenn der letzte Pfeil verschossen ist, dann ist Ihr Köcher leer!“
Ich verstehe.
„Und weshalb würden Sie beide Pfeile gleichzeitig verschießen?“
„Weil das die drei Pfeile sind, die wir zur Zeit kennen. Wer sagt uns, daß nicht in Kürze ein weiterer Pfeil zur Verfügung steht? Wer sagt uns, daß wir nicht doch noch rechtzeitig Munition nachladen können?“
Ich verstehe.
„Daß die Chemotherapie positive Wirkungen haben kann, wissen wir. Daß die Bestrahlung wirkt, wissen wir auch.“
Ich verstehe, was er jetzt sagt, bevor er es sagt:
„Weshalb sollte ich heute auf eine Therapie verzichten, um in einer Zukunft, die ich womöglich gar nicht erlebe, auf diese zurückgreifen zu können?“
„Wann fangen wir an?“
„Womit?“
„Meine Pfeile zu verschießen…“
„Sofort!“

Stuhlgang

13/14

„Hier endet ihr ganz normales Leben!“
Dieser Satz sollte vor jeder Arztpraxis und jedem Krankenhaus für Klarheit sorgen.
Denn mit einem normalen Leben hat „Patientsein“ nichts zu tun.
Als Mensch wird man nicht mehrmals täglich gefragt, ob man schon Stuhl hatte, wie es mit dem Urin klappt und wie mit dem Sex.
Als Patient werden solche und andere Fragen, vor allem aber deren Beantwortung, zum Alltag.
Den Krankenhäusern dieser Welt müssen die ihnen anvertrauten Menschen massenhaft an Darmverschluß wegsterben.
Anders ist das praktisch öffentliche Interesse an meiner Scheiße nicht zu erklären.
Ich könnte mich daran gewöhnen, so ist das nicht.
Aber ich will es nicht!
Ich habe mir deshalb überlegt, mir T-Shirts zuzulegen, auf denen deutlich zu lesen ist: „Heute schon gekackt!“
Nur befürchte ich, daß die Ironie darin niemandem auffiele.
Tür auf.
„Ach Herr Kramer, ich sehe schon: Heute schon gekackt! Na das ist ja schön.“
Tür zu.

Grad 3

14/14

„Wie wir es erwartet haben.“
Der Operateur hat meine Frau und mich zu einem Gespräch gebeten.
„Wir haben, wie besprochen, Ihren Tumor an die zentrale Tumordatenbank geschickt und heute die Bestätigung erhalten: Grad 3.“
Ich bin nicht erschüttert.
Grad 3 ist nicht Grad 4.
Leider auch nicht Grad 2.
Aber, wo steht, daß Grad 2 toll ist?
Seit meiner Erstdiagnose beschäftigt mich die Frage, was für ein Bursche mein Tumor wohl ist.
Eine eher harmlose 1?
Eine etwas hartnäckigere 2?
Oder doch schon eine beschissene 3?
Ja, sind wir den hier beim Eiskunstlaufen?
1,2,3 oder 4.
Es gibt keinen gutartigen Tumor – mag das Volk auch noch so hartnäckig daran glauben!
Ein Tumor ist ein Tumor, weil er macht, was er will.
Vor allem wächst er, wo und wie schnell er will.
Heute eine 1, morgen eine 4.
Das ist ein Tumor!
Also beschließe ich schon an einem der ersten Tage, daß eine 4 ziemlich beschissen wäre, alles andere aber auch nicht viel besser.
Jetzt, wo mein Arzt mir die 3 präsentiert, habe ich dennoch ein eher positives Gefühl.
Immerhin ist besser, mit dem Auto auf eine Wand zuzufahren, als bereits daran zu kleben.
Und wer weiß, vielleicht kann ich das Steuer noch herum reißen?
Und wenn nicht, gibt es noch die Airbags.
Meine heißen „Bestrahlung“ und „Chemotherapie“.

12.01.2010

  • Auf Haiti bebt die Erde. 150 000 Tote.

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