Psychotherapie

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In den ersten Wochen meines neuen Lebens als Tumorpatient, bringt mich der Gedanke an meinen womöglich nahen Tod um den Verstand.
Ich will „fast um den Verstand“ schreiben, lasse es aber.
Der Wahrheit wegen.
Kein Schlaf, keine ruhige Minute.
Keine Pause von der Angst.
Nachts sitze ich allein und warte, dass es hell wird.
Wenn es hell ist, warte ich voller Angst auf das Dunkelwerden.
Ich versuche, zu vergessen, was mit mir passiert.
Unmöglich.
Denken Sie nicht an die Farbe Rot.
Unmöglich.
Manchmal lege ich mich neben meine Frau und weine still.
So still, dass sie davon wach wird.
Schlaf doch, sagt sie anfangs.
Unmöglich.
Zurück in die dunkle Stube, meine Frau wird in ein paar Stunden arbeiten müssen.
Schlaf, sage ich.
Und warte, dass es hell wird.

Eine andere Sicht

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Heute findet das zweite Gespräch mit meiner neuen Psychotherapeutin statt.
Sie betreut auf den Klinikstationen Patienten, die gute Gründe für psychische Störungen haben.
Ich denke, sie könnte meine Tochter sein.
Das macht es am Anfang schwer, später vergesse ich diesen Gedanken.
Es tut gut, ihr zu zuhören, wie es gut tut, wenn sie zuhört.
Sie erzählt mir, daß sie mich nicht therapieren will, und tut es dennoch.
Es sind gute Gespräche mit ihr.
„Wovor haben Sie Angst?“ fragt sie mich, als ich ihr von meiner Schlaflosigkeit erzähle.
„Davor, zu verblöden.“
„Warum?“
„Weil ich meiner Frau nicht zur Last fallen möchte.“
„Wie meinen Sie das?“
„Ich möchte ihr ersparen, mich pflegen zu müssen.“
„Aber möchte ihre Frau auch, dass Sie ihr das ersparen?“
Ich sehe sie ratlos an.
„Beschreiben Sie doch einmal, wie es aussieht, wenn Ihre Frau Sie pflegt.“
„Ich sitze in meinem Bett und werde von ihr gefüttert. Aus meinem Mund läuft Speichel, meine Frau wischt ihn ab.
Dann füttert sie mich weiter.“
„Und wo schaut Ihre Frau die ganze Zeit hin?“
„Sie schaut mir ins Gesicht.“
„Sie wendet sich also nicht von Ihnen ab?“
„Nein. Sie schaut mich die ganze Zeit an.“
„Ein schönes Bild!“

Hier und Heute

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Auf einem meiner unzähligen Spaziergänge, werde ich auf das Praxisschild eines Psychologen aufmerksam, und vereinbare mit ihm einen Gesprächstermin.
Irgendetwas in mir lässt mich glauben, dass dies eine gute Idee wäre.
„Haben Sie schon einmal an Selbstmord gedacht?“
Er sagt tatsächlich Selbstmord, und ich bin kurz versucht, ihn zu korrigieren.
Selbstmord ist ein wirklich dummes Wort. Ein Psychologe sollte das wissen.
Da ich mit dieser Frage jedoch gerechnet habe, konzentriere ich mich erst einmal auf meine Antwort.
Schließlich möchte ich diese Praxis als freier Mensch verlassen.
„Wenn jemand in meiner Situation nicht an Suizid denkt, sollte er sich einen Psychologen suchen.
Natürlich denke ich daran, mir das Leben zu nehmen.“
Er blickt überrascht von seiner Tastatur auf, mit deren Hilfe er seit zehn Minuten an meiner Psyche arbeitet.
„Weshalb glauben Sie, daß das natürlich ist?“
„Weil ich außer mir niemanden kenne, der von seiner querschnittgelähmten Frau in der neurochirurgischen Abteilung eines Krankenhauses besucht wird.“
Jetzt tut er mir leid, wie er in seinem Psychologensessel sitzt und nach einer Psychologenantwort sucht.
Was er sagt, ist nicht so schlecht, wie ich es erwarte.
„Wissen Sie, was Sie mir da erzählen, erlebe ich auch nicht jeden Tag. Ich glaube, darüber sollte ich erst einmal nachdenken.“
Ich halte Nachdenken, bevor man etwas sagt, grundsätzlich für eine gute Sache und bestärke ihn in seinem Vorhaben.
Um das Gespräch nicht jetzt schon beenden zu müssen, frage ich ihn, mit welcher Art von Problemen die Leute denn sonst zu ihm kommen.
„Burnout, Existenzängste, so ein Zeug eben. Mit Ihnen gar nicht zu vergleichen!“
So wie er das sagt, macht es mich ein wenig stolz, ihn mit einem echten Problem zu belästigen.
Blöd nur, daß er dafür keine konfektionierte Lösung auf seinem Monitor findet.
Auch ihm ist das jetzt aufgefallen und er schaut mich an.
„Wissen Sie, in unserer Gesellschaft machen die Menschen viel zu viele und vor allem viel zu weitreichende Pläne. Lebensplanungen von zwanzig, dreißig Jahren, sind eher die Regel, denn die Ausnahme. Sie müssen nur einmal an Baufinanzierungen oder Lebensversicherungen denken. Wenn dann so etwas passiert, wie ihnen gerade, entstehen Lebenskrisen. Die gemachten Pläne lösen sich in Luft auf, alles kommt durcheinander. Am Ende auch die eigene Psyche.“
Obwohl das, was er sagt, jetzt doch irgendwie konfektioniert klingt, hat er meine ungeteilte Aufmerksamkeit.
„Hören Sie auf, Pläne zu machen.
Leben Sie im Hier und Heute.
Genießen Sie den Tag, das schöne Wetter.
Leben Sie.
Wann Sie sterben, wird sich zeigen, wir wissen es nicht.
Auch ihre Ärzte wissen es nicht.
Wir wissen nicht, warum Sie Krebs haben. Wie sollten wir dann wissen, wie lange Sie damit noch leben werden?“
An diesem Abend schlafe ich erstmals seit Wochen.
Im Hier und Heute.

Flucht

4/4

Mit jedem Tag, der seit dem Gespräch mit dem Psychologen und dessen Computerbildschirm vergeht, lässt dessen positive Wirkung nach.
Ich schlafe schlecht, eigentlich gar nicht.
Ich kann das nächste Zusammentreffen mit ihm kaum erwarten, und gehe voller Hoffnung auf neuerliche Hilfe in seine Praxis.
Dass ich einen Psychologen in Anspruch nehme, belastet mich nicht.
Es ist das erste Mal in meinem Leben, und ich denke, mir dafür den richtigen Zeitpunkt ausgesucht zu haben.
„Ich habe viel über Sie nachgedacht“, beginnt er unser zweites Zusammentreffen.
Ich hänge an seinen Lippen als er fortfährt:
„Ganz im Vertrauen, und ich schreibe das auch nicht in ihre Karte. Wenn Sie sich dazu entschließen sollten, sich das Leben zu nehmen: mein O.K. haben Sie.“
Er erklärt mir ausführlich, wie sehr ihn meine Situation beschäftigt, daß auch seine Mutter erst kürzlich an Krebs gestorben ist.
Ich will hier weg!
Als ich vor das Haus trete, begleitet mich ein dunkler Schatten.
So nah war ich dem Tod noch nie.
Ich sehe die Menschen an, die mir begegnen, die Häuser.
Die Sonne.
Ich will nicht sterben.
Und das Leben werde ich mir auch nicht nehmen.
Ich scheiße auf Dein Verständnis, du Idiot!

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