Intermediat

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„Ich werde nicht in eine Flasche pinkeln!“
„Doch, das werden Sie!“
Sie ist um die Sechzig, und sie ist meine Stationsschwester in dieser ersten Nacht außerhalb der Intensivstation.
„Ich war heute Nachmittag auch schon auf der Toilette und ich werde da wieder hingehen!“
Meine rechte Hand zeigt auf das kaum fünf Schritt entfernte WC.
„Außerdem habe ich eine linksseitige Parese!“
Parese ist mein Wort des Tages.
Ein Pfleger hat es benutzt und mir gefällt es, meinen Problemen wichtige Namen zu geben.
Schade nur, dass ich auf der linken Seite tatsächlich nicht viel spüre.
„Sie haben keine Parese!“
Ja, spinn ich jetzt?
„Doch, ich habe eine Parese!“
„Haben Sie nicht!“
„Doch, habe ich!“
Jetzt wird es mir unheimlich.
Immerhin erinnert mich nicht nur ihr Verhalten an Annie aus “Misery”, der Verfilmung eines Romans von Stephen King!
So lustig mir das in der Erinnerung auch erscheinen mag, in dieser Minute habe ich vor dieser Frau, die ihre Macht und meine Hilflosigkeit ausnutzt, Angst.
Da bin ich mit einer mir Wildfremden, um Mitternacht einer eiskalten und stockdunklen Winternacht, allein in einem Krankenhauszimmer, aus meinem Hals baumelt ein dicker Schlauch, der wohl fast bis in mein Herz führt und muß darüber streiten, wie schlecht es mir geht?
„Ich spüre meine linke Hand nicht! Und wenn Sie es genau wissen wollen, spüre ich meinen Penis auch nicht! Nun sagen Sie mir mal, wie ich da in eine Flasche pinkeln soll!“
„Das ist mir egal. Entweder, Sie benutzen die Ente, oder ich muß Sie kathetern!“
Die meint das ernst!
Vor noch nicht einmal 24 Stunden hat man mir unter nicht geringen Schmerzen einen Schlauch in der Dicke eines Bleistifts aus meiner Harnröhre gezogen.
Und diese Frau will da jetzt wieder so ein Ding reinstecken?
Niemals.
„Ich kann ihnen auch Ihren Penis in die Flasche einführen!“
Jetzt reicht es mir.
„Entweder, Sie helfen mir, auf die Toilette zu gehen, oder ich pinkle ins Bett, dann können Sie das Ding frisch beziehen!“
Treffer.
Versenkt.
Sie verlässt mein Zimmer und mich im Ungewissen, was nun passieren wird.
Eine ganze Weile passiert nichts.
Ich trage mich gerade mit dem Gedanken, die drei Meter zur Toilette allein in Angriff zu nehmen, da geht die Tür auf und mein Engel schiebt einen Duschrollstuhl in mein Zimmer.
„Da setzen Sie sich jetzt drauf und ich bringe Sie zur Behindertentoilette!“
Ein klassisches Remis deutet sich an.
Ich komme nicht auf eigenen Füßen zur Toilette in meinem Zimmer, muß aber auch nicht in eine Flasche pinkeln.
Sie hat keinen Millimeter nachgegeben und ihren Kopf durchgesetzt.
Damit kann ich leben.
Wenig später sitze ich in meinem hinten offenen OP – Kittelchen in einem bis unter die Decke weiß gefliesten Raum, auf dem von Annie organisierten Duschrollstuhl über einer Toilette, und pinkele durch das Loch in meinem Sitz.
Was für ein Gefühl!

Wunder

2/2

Als Annie sich am Morgen mit den Worten „Na dann, bis heute Abend!“ von mir verabschiedet, steht für mich eines fest:
Hier bin ich heute Abend weg!
Nur leider habe ich nicht die geringste Idee, wie ich das anstellen soll!
Noch während ich über mögliche Gründe für eine vorzeitige Verlegung nachdenke, öffnet sich die Zimmertür, und eine Gruppe weiß gekleideter Menschen, später werde ich erfahren, daß man dies Visite nennt, schaut interessiert zu mir rein.
„Guten Morgen. Wir kommen nicht zu Ihnen ins Zimmer, weil wir den Norovirus auf der Station haben. Aus diesem Grund, werden wir Sie auch vorzeitig auf Ihr altes Zimmer verlegen.“
Ganz offensichtlich habe ich zum lieben Gott einen weit besseren Draht, als mir das bis heute bewusst war! Angesichts meiner Gesamtsituation gefällt mir dieser Gedanke. Da ich das laute Piepen auf der Intensivstation noch im Ohr habe, bin ich allerdings sicher, daß er noch viel mehr zu tun hat, als sich um mich zu kümmern.
Kaum auf der regulären Station angekommen, beschließe ich deshalb, Laufen zu lernen.

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