Alternativmedizin

1/6

33 Kumpel in Chile gelangen durch eine 600m lange Röhre zurück ins Leben. Als der Ersthelfer Gonzales sich zu den Eingeschlossenen hinab begibt, kann ich dessen Mut kaum fassen und beschließe, mich meiner Angst vor Enge zu stellen.
Röhren sind gut. Vor allem, wenn sie Leben retten.
Meine Röhre heißt MRT und auch sie ist gut.
Mein Kopf weiß das.
Mein vegetatives Nervensystem weiß das nicht.
Also muß ein Therapeut es ihm beibringen.
Therapeuten findet man im Telefonbuch.
Denke ich.
Was ich finde, sind Telefonnummern.
„Sie erreichen mich montags, dienstags und donnerstags von 10.05 Uhr bis 10.20 Uhr.“
Nächste Nummer.
„Sie erreichen mich nicht persönlich. Sprechen Sie deutlich Ihren Namen und Ihre Telefonnummer. Ich rufe zurück.“
Nächste Nummer.
„Psychologische Psychotherapie, Anrufbeantworter. Wir sind im Urlaub.“
Nächste Nummer.
Klingeln. Niemand nimmt ab.
Nächste Nummer.
„Sie erreichen mich in der Praxis dienstags von 12.10 Uhr bis 12.30 Uhr.“
Mir reicht es.
Was machen weniger verzweifelte Menschen als ich es bin, angesichts so demonstrativer Distanz zwischen sich und der gesuchten Hilfe?
Als ich im Begriff bin, mir ein Stück Kanalrohr zu kaufen, um darin zu schlafen, klingelt mein Telefon.
„Sie hatten bei mir angerufen?“
„Sind Sie eine Psychotherapeutin?“
„Ja. Was kann ich für Sie tun?“
„Ich glaube ihnen nicht, daß Sie eine Therapeutin sind.“
„Weshalb nicht?“
„Weil man richtige Therapeutinnen und Therapeuten nie erreicht.“
Sie lacht.
„Und weil Sie keinen Doppelnamen haben.“
Sie lacht.
Schon am nächsten Dienstag habe ich einen Termin bei ihr.
Irgend etwas stimmt mit ihr nicht.

Tumor trifft Schlaganfall

2/6

Was die wohl über mich denkt?
Ich warte vor der Praxis der Psychotherapeutin bis zu der Minute, in der wir verabredet sind. Eine junge Frau spricht mich an und macht mich auf die Klingel neben der Haustür aufmerksam.
Ein wenig klingt ihr Hinweis nach „Opa, da links neben der Tür, da mußt Du drücken!“
Vielleicht hält sie mich aber einfach auch nur für verrückt. Ich weiß nicht, welche der beiden Varianten mir lieber wäre.
Als die Tür sich dann scheinbar von allein öffnet, nimmt die junge Frau die heraustretende ältere Dame in Empfang, während ich mich auf die Frau mit der Tür in der Hand konzentriere.
Klein, blond, nicht unattraktiv, etwa mein Alter. Eine Brille in der Hand.
Wir schütteln uns die Hände, was mir wie ein erster Test vorkommt, vielleicht auch wegen des intensiven Blickkontaktes.
Als sie sich umdreht, um voraus zu gehen, humpelt sie stark.
Das kann, das will ich nicht übersehen.„Was haben Sie denn gemacht?“
Überraschung.Ein kurzer Halt.
„Ich hatte einen Schlaganfall.“
Das wird ein interessanter Nachmittag.

Kinesiologie, Teil 1

3/6

Wir setzen uns und ich sehe ihr an, wie schwer es ihr fällt, dabei die Haltung zu wahren. Mit den Händen hilft sie einem ihrer Beine in die richtige Position, dann streckt sich ihr Oberkörper, jetzt erst sieht sie mich an.
Die Frau ist krank.
Ich bin krank.
Wir sind krank.
Später soll mir bewußt werden, daß ich ein Schauspiel erleben werde. Ein Schauspiel, dessen Hauptfigur ich bin. Gespielt von einer Frau, die ich nicht kenne.
Doch der Reihe nach.
„Erzählen Sie etwas über sich“, beginnt sie das Gespräch.
„Bevor ich etwas über mich erzähle, hätte ich gern gewußt, wer Sie sind!“
Bevor Sie mir antworten kann, erkläre ich ihr meine Neugier.
Ist sie eine Ärztin mit einer Zusatzausbildung in Psychologie, muß ich ihr nicht erklären, was ein Astrozytom ist.
Ist sie eine Psychiaterin, wäre ich womöglich im falschen Haus. Und ist sie eine Psychotherapeutin im Sinne einer „Heilerin“, dann würde sie an mir keine Freude haben.
„Was also sind Sie?“
Ihre Antwort ist freundlich, direkt, glaubwürdig.
„Ich bin von Beruf Pädagogin, habe mich aber viele Jahre mit der menschlichen Psyche befasst.“
Das ist für eine Pädagogin nie verkehrt, denke ich.
Wäre sie nicht so nett und so krank, ich würde jetzt dennoch aufstehen und gehen.
Pauker bin ich selbst.
Sie ist aber nett und ihre Bemühungen, nicht krank auf mich zu wirken, sind geradezu rührend.
Ich bleibe.
Sie erzählt mir von den vielen Büchern, die sie gelesen und von dem einen, das sie geschrieben hat.
Das wirkt aufgesetzt und berührt mich in diesem Moment unangenehm. Später werde ich es ihr nachsehen.
Nun ist es an mir, etwas über mich zu erzählen.
Ich konzentriere mich auf den Grund meines Kommens, auf meine Klaustrophobie.
Natürlich kann ich nicht von meinen Problemen mit dem MRT sprechen, ohne von meiner Erkrankung zu erzählen.
„Bei Ihnen ist ein Teil des Gehirns abgestorben, bei mir wurde ein Teil entfernt.“
Sie reagiert nicht verletzt, im Gegenteil.
Wir stellen fest, daß ihr Schlaganfall und mein epileptischer Anfall nur wenige Tage auseinander lagen.
Wir erkennen, so empfinde ich das jedenfalls, fast gleichzeitig das Ungewöhnliche daran.
Ein Hirnamputierter sitzt einer Schlaganfallpatientin gegenüber, in der Hoffnung, Hilfe zu erhalten.
Na toll.
Noch während ich überlege, ob ich an dieser Stelle das Gespräch beenden sollte, beginnt sie, daraus ein richtiges Gespräch zu machen.
Wir unterhalten uns.
Lange und ausführlich.
Den Schreibblock mit den aufgedruckten Tierkreiszeichen, ganz offensichtlich eines ihrer sonst verwendeten Hilfsmittel, rührt sie nicht einmal an.
Ich fühle mich wohl bei ihr. Ihre Fragen sind immer mit der Hoffnung auf eine Reaktion durch mich verbunden, das ist ganz offensichtlich. Aber das stört mich nicht. Mitunter scheinen sie mir etwas suggestiv zu sein, aber nicht dumm.
Als sie in meiner Stimme Traurigkeit herauszuhören glaubt, ist das nicht wirklich überraschend für mich.
Aber angenehm, daß sie es bemerkt.
Sie erzählt mir von dem, was sie mit mir machen könnte und was nicht.
Sie könnte mich hypnotisieren, um heraus zu finden, ob ich in meinem Leben ein traumatisches Erlebnis hatte, das meine Klaustrophobie hervorgerufen hat.
„Ich bin potentieller Epileptiker,“ warne ich sie.
„Sie können mich hynotisieren, nur kann es dann sein, daß ich einen Anfall bekomme!“
Sie hypnotisiert mich nicht.
Noch während ich darüber sinne, ob ich mal eine Hypnose riskieren sollte, verlegt sie ihren Sitzplatz an meine Seite.
„Ich bin ja auch Kinesiologin,“ erklärt sie mir. Ich denke, sie erwartet, daß ich weiß, was das heißt.
Ich weiß es nicht.
Und das sage ich ihr auch.
Anstatt vieler Worte fordert sie mich auf, meinen Daumen und meinen Zeigefinger aufeinander zu pressen.
Weil sie dabei meine linke Hand ergreift, versuche ich das auch mit links.
Was deutlich in die Hose geht.
Immerhin spüre ich meine Linke nicht einmal.
Um jede Peinlichkeit auszuschließen, entziehe ich ihr meine linke Hand einfach und stelle ihr die rechte zur Verfügung.
Womit meine erste Erfahrung mit der Kinesiologie ihren Lauf nimmt.

Kinesiologie, Teil 2

4/6

„Sagen Sie einmal „Ja“.
Während ich wie geheißen „Ja“ sage, zieht sie unvermittelt an Daumen und Zeigefinger.
Eben noch aufeinander gepresst, öffnet sich durch ihren Zug der Kreis, den sie bilden.
Als sie ihren Zug aufgibt, schließt er sich wieder.
„Jetzt sagen Sie bitte „Nein“.
„Nein.“
Wieder zieht sie an meinem Daumen und meinem Zeigefinger und ich würde beschwören, daß diese sich weiter und vor allem leichter voneinander lösen, als beim „Ja“.
Ich verstehe.
Sie scheint davon auszugehen, daß positive Signale meine Muskulatur unterstützen, während negative die Spannung herabsetzen.
Na gut, da sie das offensichtlich glaubt, beschließe ich, vorerst auch daran zu glauben.
Wozu bin ich schließlich hier?
Und schon prasselt eine Frage nach der anderen auf mich ein.
Frage. Ziehen an meinen Fingern.
Nein, das ging zu leicht.
Nächste Frage.
Ja, das ging schwer.
Weiter in dieser Richtung.
Nein, war wohl doch nicht die richtige Spur.
Mit der Zeit weiß ich gar nicht mehr, ob sie wegen der letzten Frage an meinen Fingern gezogen hat, oder wegen der nächsten.
Vor allem verstehe ich ihre Fragen nicht, die sie zunehmend direkt an meine Hand richtet.
Immerhin scheinen sich meine Finger und sie gut zu verstehen, denn das Gespräch zwischen den dreien dauert an.
Jetzt hat mein Daumen ihr gerade erzählt, daß ich ein traumatisches Erlebnis zwischen meinem ersten und meinem sechsten Lebensjahr hatte.
Da es jetzt anscheinend spannend wird, höre ich ihr wieder deutlich konzentrierter zu.
„War es im ersten Lebensjahr?“
Meine Finger können sich scheinbar nicht erinnern, jedenfalls ist sie mit der Antwort nicht zufrieden.
„War es im zweiten Lebensjahr?“
Ziehen.
Nö.
Im dritten?
Ziehen.
Nö.
Im vierten?
Ziehen.
Nö.
Im fünften?
Ziehen.
Stop!
Weniger meine Finger, als vielmehr ihre freudige Erregung lassen mich vermuten, daß mir im fünften Lebensjahr etwas Schreckliches passiert sein muß.
Während ich tief in mich gehe, um mich an mein komplettes fünftes Lebensjahr zu erinnern, zieht sie zur Sicherheit noch mal bei „sechs“ und „vier“.
Keine Frage, die fünf war’s.
Jetzt aber, denke ich.
Wo, verdammt noch mal, warst Du 1963, Kramer?
Erinnere Dich!
Ich möchte sie und mich nicht enttäuschen und tatsächlich fällt mir etwas ein.
Warum fällt mir das jetzt und hier ein?
Ich war mit meinen Eltern in einem Schwimmbad, so eines aus Beton mit drei Becken.
Ein Sprung-, ein Schwimm- und ein Nichtschwimmerbecken.
In Letzterem war mein Platz.
Bis zu dem Moment, in dem ich übermütig vom Beckenrand einen Kopfsprung mache.
Ich erinnere mich nicht an die Höhe des Beckenrandes, wohl aber an das flache Wasser:
Ich schlage praktisch ungebremst mit dem Kopf auf den Betonboden des Beckens.
Ein dumpfer Schmerz, ein Knacken sagen mir: hier stimmt etwas nicht!
Ich will weg hier, raus aus dem Wasser!
Völlig desorientiert zielen meine Bemühungen in die falsche Richtung, in Richtung Beckenboden. Wo sind Oben und Unten?
Ich weiß es nicht, komme in Panik, spüre einen Widerstand unter meinen Füßen und stoße mich ab.
Luft!
Als ich wieder bei meinen Eltern eintreffe, hat keiner etwas mitbekommen.
So war das, vor 47 Jahren.
Und jetzt, während eine mir fremde Frau an meinem Daumen rumzieht, fällt es mir ein.
Haben die Panik im Nichtschwimmerbecken und mein Ringen nach Luft im MRT etwas gemein?
Kann das sein?
Ich bin irritiert und entziehe ihr meine Hand, die ohnehin jedes weitere Gespräch verweigern würde.

Kinesiologie, Teil 3

5/6

Nachdem sie an ihren Therapeuten-Sitzplatz zurück gehumpelt ist (was quält sich diese Frau!), habe ich das Bedürfnis, mich mit ihr über das gerade Erlebte zu unterhalten.
Sie ist mir sympathisch und es ist mir egal, daß sie nur gegen Bezahlung mit mir spricht.
Meinen ersten Besuch bei einer Prostituierten hätte ich mir anders vorgestellt, so ist es aber auch o.k..
Wir sprechen über Tod und Teufel und vor allem darüber, wie meine Gedanken meine Gefühle beeinflussen.
„Am Ende ist ihre Angst nicht mehr als ein Gedanke!“
Das hat gesessen.
„Versuchen Sie, festgetretene Denkpfade in Ihrem Gehirn zu verlassen! Legen Sie neue, positive Denkpfade an!“
Das klingt jetzt irgendwie gar nicht wissenschaftlich, aber interessant.
Der Satz davor hat mich mehr beeindruckt.
„Nur ein Gedanke.“
Das ist es.
Tatsächlich.
Keine reale Gefahr geht von der engen Röhre des MRT aus.
Es tut auch nicht weh, dort hinein gefahren zu werden.
Nur ein Gedanke, mein Gedanke macht es mir so schwer, damit gelassen umzugehen.
Als ich gerade beginne, daran zu glauben, daß der Schwimmbadunfall von vor 47 Jahren für meine Platzangst verantwortlich ist, verliert sie das Vertrauen in ihre Fähigkeiten:
„Und wenn nicht, dann lassen Sie sich eben eine Vollnarkose verpassen!“
Es wäre auch zu schön gewesen …

Ich bin auch sauer

6/6

„Ich bin auch ganz übersäuert!“
Sie schneidet mir die Haare und freut sich, mich nach mehr als einem Jahr wieder in ihrem Salon zu haben.
Auch ich freue mich, sie wieder zu sehen, immerhin gibt es keinen deutlicheren Hinweis auf gesundes Haarwachstum, als die Notwendigkeit eines Friseurbesuchs.
Natürlich erkläre ich ihr, weshalb ich ihre Dienste so lange nicht brauchte.
Und jetzt das.
„Meine Nachbarin hat Leberkrebs. Und die nimmt es auch.“
Was?
„Anfang September macht Dr. … von der „LR Healts & Beauty Systems“ eine Informationsveranstaltung. Da kann ich Dir noch eine Karte besorgen!“
Während sie erzählt, schreibt sie mir den Namen auf einen Zettel.
Welcher Doktor?
Was für eine Firma?
Wofür?
„Na ja, Aloevera!
Der DR. … ist ja gegen dieses ganze chemische Zeug. Und der ist damit auf der ganzen Welt erfolgreich!“
Sie legt die Schere kurz aus der Hand, holt einen Zettel, auf dem in der Mitte das Wort „Aloevera“ steht und ringsherum sämtliche Krankheiten und Befindlichkeitsstörungen, von denen ich je gehört habe.
Eigentlich sogar noch deutlich mehr.
„Und gegen all das hilft Aloevera?“ ringe ich mir eine freundliches Interesse vortäuschende Frage ab.
Immerhin ist sie nett, sonst wäre ich ja gar nicht hier.
„Ja. Und nicht nur dagegen!
Mein Vater hat ja auch Leberkrebs (jetzt auch der Vater?) und dem hilft das ganz toll.
Seit der richtig auf Aloevera eingestellt ist, geht es dem viel besser.“
Ich setze gerade zu einer Erwiderung an, will ihr erklären, dass ich überzeugter Anhänger der Schulmedizin bin, da höre ich:
„Wir sind alle viel zu sauer. Ich bin es auch, das merke ich!“
Als sie mir dann noch erklärt, dass sie gerade im Vertrieb dieses tollen Arztes angefangen hat, wenn ich Fragen hätte, müsste ich am besten mit zu dieser Veranstaltung kommen, da spüre ich, dass sie wohl recht hat.
Ich bin auch sauer.
Sehr sogar.

zurück – 10 – weiter