Prognose

1/9

„Das ist eine schlechte Kombination, die Sie sich da ausgesucht haben!“
Drei Wochen lang ist der Termin im MRT für mich freigehalten worden. Drei Wochen, in denen ich in jeder Minute diesen Moment auf mich zukommen sehe.
Jetzt ist er da.
„Ich will hier weg!“
„Aber, dann werden Sie nicht wissen, ob Sie ein Rezidiv haben!“
„Das ist mir egal.“
In der Nacht zuvor irre ich durch die Stadt.
Als die erste Bäckerei öffnet, steht für mich fest:
Ich werde nicht in diese enge Röhre gehen.
Ich werde dann nicht wissen, ob ich den Tumor im Griff habe.
Ob ich auf einem guten oder einem schlechten Weg bin.
Aber, ich habe keine Wahl.
Als es ins Krankenhaus gehen soll, teile ich meiner Familie meinen Entschluss mit.
Mein Entsetzen wird zum Entsetzen aller.
Gespräche.
Die Fahrt ins Krankenhaus, ein kurzer Aufenthalt vor dem MRT.
Als ich eine Schwester darum bitte, mir die Röhre in Ruhe ansehen zu dürfen, ist diese nicht erfreut.
Aber, sie macht es möglich.

Kopfgeschichten

2/9

Und so stehe ich vor der Maschine, die mich seit Wochen nicht schlafen lässt.
So eng ist die gar nicht. Nicht so eng, wie in meiner Vorstellung.
Hoffnung.
Als man mir erklärt, daß meine Beine noch aus der Röhre ragen, während mein Kopf untersucht wird, kann ich mir vorstellen, es zu schaffen.
Ein Arzt sticht mir eine Kanüle in den rechten Arm, dort wird während der Untersuchung ein Kontrastmittel in meinem Blutkreislauf gespritzt.
Die Liege.
Dahinter die Röhre.
Eine verständnisvolle Schwester.
Der Kopfhörer, diesmal selbst mitgebrachte Musik, Runrig. Die Musik dieser Gruppe war an Bord einer Raumfähre, die beim Start explodierte. Suchmannschaften fanden die CD unter tausenden Trümmern.
So wurde ich auf sie aufmerksam.
Die Schwester sagt etwas zu mir. Was sagt sie?

Panik

3/9

Ein Gestell fixiert meinen Kopf.
Ich schließe die Augen.
Die Musik.
Die Musik.
Druck an meinen Schläfen.
Ich kann meinen Kopf nicht bewegen.
Ich höre nicht, was um mich herum passiert.
Ich sehe nichts.
Panik.
Weg.
Weg.
Jetzt.
Sofort.
Meine Hände wollen das Gestell von meinem Kopf reißen.
Helfende Hände.
Weg hier.
Stop.
„Lassen Sie meine Kanüle hier!“
Der Schlauch in meinem Arm.
„Wollen Sie es nicht doch noch einmal versuchen?
“Nein!
Weg.
„Ich will hier weg!“
„Aber, dann werden Sie nicht wissen, ob Sie ein Rezidiv haben!“
„Das ist mir egal.“
Raus hier.
Mein Arzt erwartet mich, möchte das MRT mit mir auswerten.
Es gibt kein MRT.
„Das ist eine schlechte Kombination, die Sie sich da ausgesucht haben! Ein Gehirntumor und eine Claustrophobie!“
Er sagt nur diesen einen Satz.
Dreht sich um und geht.
Gefühlte Augenblicke später kommt er wieder zu mir.
Wie durch Watte höre ich:
„Am Montag das Ganze noch einmal. Dann unter Narkose!“
Kann ich einem Professor um den Hals fallen?

Flugzeug

4/9

Schlingensief soll im Zusammenhang mit seiner Krebserkrankung gesagt haben, daß er den nächsten, der versuche, ihn zu umarmen, erschlagen würde. Immer käme er sich dabei wie bei einem Flugzeugabsturz vor, nur leider würde er in der Maschine sitzen, während die anderen nur betroffen dabei zusähen.
Ich bin nicht so klug wie Schlingensief und hätte dieses Bild ohne ihn nicht vor Augen.
Jetzt, da ich es kenne, geht es mir nicht mehr aus dem Kopf.
Ist mein Tagebuch das Tagebuch eines Abstürzenden?
Ich fliege die Maschine nicht und kann das nicht sagen.
Aber solange ich darin sitze, während die Warnsignale nicht verstummen, sollten alle am Flugfeld Stehenden die Klappe halten und mir nicht erzählen, wie ich mich zu verhalten hätte.
Steigt ein in mein Flugzeug mit dem brennenden Triebwerk!
Und dann laßt uns ein Schwätzchen halten über Männlichkeit und Gleichmut.

Morgen MRT, wegen meiner Klaustrophobie unter Vollnarkose. Danach Auswertung der Bilder. Möchte jemand seinen Kommentar dazu abgeben?

Murphys Gesetz

5/9

Wie oft habe ich schon davon gehört. „Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen.“
Seit heute weiß ich, dass das stimmt.
Pünktlich um 6.30 Uhr finde ich mich auf Station ein. Von dort aus soll es in die Anästhesie und später ins MRT gehen.
Ich werde auf ein 4 – Bett – Zimmer gebracht, setze mich auf einen der Stühle und warte.
7.00 Uhr.
Für zwei der vier anwesenden Männer gibt es Frühstück. Die beiden anderen, einer davon ich, müssen „nüchtern“ bleiben.
Nüchtern heißt: kein Frühstück.
8.30 Uhr
Der zweite Nüchterne wird zur Behandlung abgeholt. Ich nicht.
9.30 Uhr
Der zweite Nüchterne ist nicht mehr nüchtern. Er sitzt mir gegenüber und genießt sein Frühstück. Ich hatte keine Ahnung, wie gut Krankenhauskaffee riechen kann.
10.30 Uhr
„Da hat etwas mit der Informationsweitergabe nicht geklappt. Die Anästhesisten wußten gar nichts von Ihnen. Jetzt haben die soviel zu tun, daß Sie noch bis Mittag warten müssen. 11.29 Uhr hat man mir gesagt, sind Sie dran.“ Die Schwester verlässt das Zimmer nicht, ohne mich nochmal darauf hinzu weisen, dass ich nüchtern bleiben muß.
Oh Mann, was bin ich nüchtern.
11.28 Uhr
Meine drei Mitbewohner und ich verfolgen den Sekundenzeiger auf der Wanduhr . Wird sich die Tür um 11.29 Uhr öffnen?
11.29 Uhr
Die Tür bleibt zu.
12.30 Uhr
Mittagessen für drei von vier.
Nüchtern ist mein zweiter Name!
12.45 Uhr
„Jetzt ist in der Anästhesie Schichtwechsel. Da sind immer ein paar Ärzte mehr da und man wird versuchen, Sie dazwischen zu schieben. Bleiben Sie auf jeden Fall nüchtern!“ Ich bin jetzt seit 8 Stunden auf den Beinen und habe noch keinen Schluck getrunken oder gegessen.
Dafür bin ich nüchtern.
Garantiert.

Eine Handvoll Nüchtern

6/9

14.00 Uhr
Zwei Schwestern bringen mir einen der  hübschen OP – Kittelchen, in denen man nackt besser nicht über den Flur läuft, es sei denn, man will jedem seinen Hintern zeigen.
“Wir bringen Sie jetzt in die Anästhesie. Von dort fährt man Sie ins MRT.“
14.30 Uhr
„Sie kommen extra aus Aurich, um sich von mir flach legen zu lassen?“
„Ja, ich bin den Weg nur gefahren, um Sie kennen zu lernen!
„Das glaube ich Ihnen nicht!“
Er ist ein nett aussehender Fleischer, der heute seinen Dienst in der OP – Vorbereitung versieht. Hat meine Hände zu Nadelkissen umfunktioniert und währenddessen mit mir darüber verhandelt, wie tief er mich schlafen lassen wird.
„Wieso glauben Sie mir das nicht?“
„Das sagt mir meine weibliche Intuition!“
Als er sich wieder über mich beugt, sieht er ganz anders aus. Viel blasser und dicker.
„Herr Kramer, sind Sie wach? Es gab Probleme während der Narkose. Aber, das werden die Ärzte Ihnen erklären!“
„Erklären Sie es mir!“
„Nein. Das darf ich nicht. Das macht der Arzt.“
So langsam realisiere ich, daß er nicht mein Anästhesist mit der weiblichen Intuition ist.
Und daß ich im Aufwachraum liege und daß irgend etwas Schlimmes mit mir passiert ist.
Und dieser Knallkopf da, sagt mir nicht, was.
Kurzer, interner Check.
Ich heiße? Frank.
Ich wohne in? Aurich.
Meine Frau heißt? Anne.
Den linken Fuß? Spüre ich.
Den rechten? Auch.
Linker Arm, rechter Arm? O.K.
Was regt der sich so auf?
Endlich. Der Arzt. Sieht ziemlich zerknirscht aus.
Gar nicht mehr fröhlich.
Habe ich irgend etwas vergessen zu checken?
„Herr Kramer. Es gab ein Problem während Ihrer Narkose.“
Scheiße, das weiß ich schon. Welches?
„Die Beatmungsmaske, die wir Ihnen aufgesetzt haben, ist verrutscht und wir haben Ihnen Luft in den Magen und nicht in die Lunge gepumpt.“
Sauerstoffmangel!
Wieviel ist 2 mal 2? 4.
Wie alt bin ich?
„Dann haben Sie, auf dem Rücken liegend, im MRT erbrochen, und das Erbrochene eingeatmet.“
Das kann ja nur eine Handvoll „Nüchtern“ gewesen sein.
„Gott sei Dank war das aber nur etwas Schleim und Flüssigkeit“
Sag ich doch.
„Na, dann war das doch halb so schlimm!“, versuche ich ihn aufzurichten.
„Sie hätten dabei sein müssen!“
Wir bemerken zeitgleich den Wortwitz und lachen.
So schnell, wie ich den verstanden habe, kann es mit dem Sauerstoffmangel nicht so schlimm gewesen sein.
„So, nun aber Butter bei die Fische! Wie sieht denn das Worst-Case-Szenario aus? Was ist mir denn nun passiert, oder, was kann mir noch passieren?“
„Sie können eine Lungenentzündung behommen!“
Wegen einer Lungenentzündung das ganze Theater? Ich atme tief durch. Aua. Das hatte ich noch nicht gecheckt.
„Ich kann eine Lungenentzündung bekommen, heißt aber nicht, dass ich sicher eine bekommen werde, oder?“
„Nein.“
„Ist denn wenigstens das MRT – Bild etwas geworden?“
„Ja.“
„Na, dann ist doch alles in Ordnung!“
Er lächelt.
Gut so.

Nachtunruhe

7/9

Ich bin privat versichert, auch ein Einzelzimmer würde mir durch meine Versicherung bezahlt. Nur konnte bei der Bettenplanung keiner ahnen, daß ich meine Nüchternheit einatmen und noch eine Nacht dableiben würde.
Inzwischen, soviel steht fest, macht das besorgte Gesicht meines Anästhesisten Sinn.
Sicher wußte er von dem 4-Bett-Zimmer, das er mir eingebrockt hat.
So schlecht ist Totsein vielleicht gar nicht.
Ein 4-Bett-Zimmer voller alter Männer lässt mich etwas von der Gnade des frühen Todes spüren.
Einer erzählt bis zu dem Augenblick, in dem ein Neuzugang das Zimmer betritt, von seiner Wehrdienstverweigerung zu Zeiten der DDR und seiner daraus resultierenden Inhaftierung. Der Neuzugang fragt wenig später in die Runde, wer denn eigentlich die jungen Männer erziehen solle, wo doch jetzt die Wehrpflicht abgeschafft wird?
Was er beruflich macht?
„Jetzt bin ich bei der DEKRA.“
Im Wörterbuch „Ostdeutsch – Deutsch“ findet sich unter „Jetzt bin ich bei der DEKRA“ folgender Eintrag:
„Früher war ich bei der Stasi und/oder NVA und arbeite jetzt in meinem ehemals zivil erlernten Beruf.“
Am zwanzigsten Jahrestag des Beitrittes der DDR zur Bundesrepublik teilen sich ein Ausgereister, ein politisch Inhaftierter und ein „Heute-bin-ich-bei-der-DEKRA“ ein Zimmer. Da sage noch einer, die deutsche Wiedervereinigung mache keine Fortschritte.
Sind es die fehlenden Gesprächsthemen oder der zurückliegende Stress?
Um kurz nach neun ist Nachtruhe.
Schon wenig später ist nur noch Nacht.
Von kurzen Erstickungsanfällen unterbrochen, röchelt sich die DEKRA durch den eigenen Schlaf.
Bin ich der Einzige, den das stört? Wieso liegt der Pazifist so ruhig?
Der muss tot sein!
Dass er Krankenhauserfahrung hat und Oropax in den Gehörgängen, erfahre ich erst spät in der Nacht.
Ich greife die Anregung auf und stecke mir meine iPhone – Kopfhörer in die Ohren.
So laut, dass ich das Schnarchen nicht höre, kann ich die Musik aber gar nicht machen, dann bin ich in Kürze taub.
Und schlafen kann ich so auch nicht.
Ein Tag voller Nüchternheit, eine misslungene Narkose und ein noch immer ausstehender Befund meiner MRT – Untersuchung liegen hinter und eine schlaflose Nacht vor mir.
Die Stunden wollen nicht vergehen.
Gibt es ein Rezidiv, einen neuen Tumor? Haben Bestrahlung und Chemotherapien geholfen, haben sie mir Zeit verschafft?
Als es dämmert, stehe ich auf und laufe auf dem Stationsflur auf und ab.
Ich sehe einen Daumen, der sich hebt, der sich senkt. Der sich hebt.
Lass ihn schnarchen, den sympathischen Mitarbeiter der DEKRA, am Tag eins seines Hirntumors. Ich werde ihn nicht stören.
Und den Oropaxifisten auch nicht.
Die Frühschicht kommt.
Na denn.

Eine zweite Chance

8/9

Vom Eintreffen der Frühschicht bis zum Gespräch mit meinem Arzt vergehen noch fast fünf Stunden. Fünf Stunden, die mich um ebenso viele Jahre altern lassen.
Da ist er.
„Guten Tag Herr Kramer.“
Ist dies das Gesicht eines Menschen, der schlechte Nachricht überbringt?
„Guten Tag Herr Professor.“
„Um es kurz zu machen:“
Oh nein!
„Die Bilder sehen gut aus.“
Wie bitte?
„Als wir Sie im Januar operiert haben, konnten wir uns ein solches Ergebnis wünschen. Daran geglaubt hätte ich nicht.“
Bitte nicht aufhören!
„Wenn ich die Aufnahmen vom April mit den heutigen vergleiche, gibt es keine Veränderungen. Und die im April haben uns ja sehr zufrieden gemacht!“
Ja. Ja. Ja.
Ich möchte springen, weglaufen, mit den Füßen stampfen. Vorerst lächele ich ihn an.
„Dann sind Sie also mit dem Verlauf meiner Krankheit zufrieden?“
„Sehr zufrieden sogar. Lassen Sie es mich so formulieren: Unter denen, die so wie Sie ins Klo greifen, gehören Sie zu denen, die Glück haben.“
Ich sehe ihn verständnislos genug an, um ihn zum Weitersprechen zu bewegen.
„Nach allem, was wir über Ihren Tumor wissen und mit diesen aktuellen Bildern hier vor Augen, spricht vieles dafür, daß Sie zu denen gehören, bei denen wir auch eine Langzeitprognose wagen dürfen.“
Professorendeutsch.
Ich liebe es.
Langzeitprognose.
L a n g z e i t p r o g n o s e.
Die Stunden, die vergehen, bis ich dies hier aufschreibe, gehören zu den glücklichsten meines Lebens.
Weihnachten, Silvester, Ostern.
Ich komme!

Wieder im Nest

9/9

Wenn meine zwei Jahre alte Enkelin sich verstecken möchte, hält sie einfach eine Hand vor ihr Gesicht und ruft kichernd “Anna weg!“
Lange hält sie das aber nicht durch und schon bewegen sich die kleinen Finger auseinander, um meinen Blick zu suchen.
Hat sie ihn gefunden, schließt sie die gespreizten Finger sofort wieder. „Anna weg!“
Um ihr eine Freude zu machen, beginne auch ich, mir die Hand vor die Augen zu halten.
Nicht nur das Lachen der Kleinen belohnt diese Albernheit.
Es ist schön, nicht zu sehen und davon zu träumen, nicht gesehen zu werden.
Doch schon tönt es: „Anna da!”
Opa auch, kleine Anna.
Opa auch …

ENDE

Ein epileptischer Anfall macht auf einen Tumor in meinem Kopf aufmerksam. Wenig später sagt man mir, ich hätte noch drei Jahre zu leben.

Vielleicht etwas mehr.
Vielleicht etwas weniger.

Inzwischen ist der Tumor seit dreizehn Jahren tot.
Ich aber lebe noch immer.

07. März 2024

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