Intensivstation

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Was für ein Krach! Es piept an allen Ecken und Enden.
Zwischendurch rufen sich Menschen etwas zu, werden leere Flaschen in Behälter geworfen.
Mir ist kalt.
Ich liege in einem dunklen Raum; das wenige Licht hat seinen Ursprung in kleinen, meist blinkenden Lämpchen.
Achtung, da will jemand etwas von mir: „Hallo!“
Hallo, denke ich. Denn bevor ich Hallo sage, muss erstmal was anderes raus: „Das ist schweinelaut hier!“
„Sie sind auf der Intensivstation! Wissen Sie, wie Sie hierher gekommen sind?“
„Nein, aber ich weiß, warum ich hier bin.“
Meine Antwort scheint Eindruck gemacht zu haben, denn ab sofort schreit mich mein Besucher nicht mehr an, sondern unterhält sich mit mir, als hätte ich noch alle Tassen im Schrank.
Von jetzt an werde ich nur noch Antworten geben, die mir klug vorkommen. Was ich in diesem Moment für eine verdammt gute Idee halte. Immerhin hat man mir gerade am Gehirn herumgeschraubt. Das könnten einige meiner Mitmenschen auf dumme Ideen bringen.

iTod

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Die erste Nacht auf der Intensivstation liegt hinter mir, und das Stück Himmel, das ich von meinem Bett aus sehen kann, wird langsam hell.
Gespräche setzen ein.
Die Nachtschicht übergibt an die Frühschicht. Unter anderem mich.
„Der Neue ist sehr aufmerksam. Sonst keine Besonderheiten.“
Na, geht doch.
Für aufmerksam hält man mich wohl, weil ich der Nachtschicht den Gebrauch von iPhones empfohlen habe.
„Da können Ihre piependen Maschinen dann anklingeln, und der Vibrationsalarm in Ihrer Tasche sagt Ihnen, dass Sie gebraucht werden.“ Ein stillerer Alarm.
„Das macht heute sogar die Feuerwehr so, eine Sirene höre ich von denen seit Jahren nicht mehr.“
„Warum muss ich denn wissen, dass der Patient hinter dem Vorhang neben mir gerade stirbt?“, frage ich so gegen drei Uhr.
Weil mir sofort auffällt, dass mein Nachbar das gehört haben könnte, füge ich an. „Und falls ich abnippeln, ist das sicher auch nicht von öffentlichem Interesse!“
Den Rest der Nacht stelle ich mir vor, wie die Beatmungsmaschine eine Nachricht an den diensthabenden Arzt absetzt:
„Achtung, der Typ, den ich hier belüfte, könnte demnächst tot sein!“
Das Ganze als E-Mail, ein kurzes Vibrieren in der Hose des Arztes – und während die Beatmungsmaschine beim Nachbarn abgeschaltet wird, kann ich in aller Ruhe weiterschlafen.
Als Bewohner einer Intensivstation halte ich das für eine brauchbare Erfindung.
Da ich mir nichts aufschreiben kann, muss ich mir jede meiner Ideen einprägen. Was einerseits anstrengend ist, andererseits aber auch ablenkt. Am Ende hat meine Erfindung sogar einen Namen: „iTod“.

Netter Nazi

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Er ist der erste Mann an meinem Bett, der kein Arzt ist. Er ist mein Pfleger. Dynamisch, freundlich, ein netter Kerl. Ich mag ihn. Gerade erzählt er mir, dass er fast 30 km Arbeitsweg hat, was mir in diesem strengen Winter besonders viel erscheint. Dabei klagt er sich nicht. Stattdessen hebt er meine Bettdecke an, schaut mir kurz in den Schritt und sagt zu seinem Kollegen, der sich die ganze Zeit im Hintergrund aufhält: „So sieht das auch aus!“ Ich bin sicher, dass es nicht die Größe meines kleinen Freundes ist, die ihn beeindruckt. Vielmehr muss der Katheter, der aus meiner Harnröhre ragt, auf ihn wirken wie das Auspuffrohr eines getunten Opel Kadett. „Wie passt das dicke Rohr in das Dünne?“ Ich tue so, als würde jeden Tag ein wildfremder Mann erstaunte Geräusche wegen meines Penis von sich geben, und harre der Dinge, die kommen werden.

Und da hat es sich auch schon erledigt, das Harren. Noch während ich ziemlich beleidigt bin wegen der für mich erkennbaren Missachtung meiner Männlichkeit, wickelt er sich den Katheter um die eine Hand und greift meinen Penis mit zwei spitzen Fingern der anderen Hand. So habe ich es jedenfalls in Erinnerung. Es kann auch umgekehrt gewesen sein! Unvermittelt zieht er kräftig an dem Schlauch, der irgendwo in der Nähe meines Herzens enden muss. Als ich gerade vor Schmerz losschreien will, baumelt das Ding bereits vor meinem Gesicht. Ein flüchtiger Betrachter meiner primären Geschlechtsorgane würde mich jetzt wohl auf der Frauenstation vermuten.

Um mich abzulenken, erzählt er mir von der Arbeit in der Freiwilligen Feuerwehr seines Dorfes, von seinen Freunden. Völlig unvermittelt beginnt er, auf Ausländer zu schimpfen. Seine Stimme überschlägt sich bisweilen. „Die haben immer die dicken Autos. Die Klamotten, die die tragen, kann ich mir nicht leisten. Machen laufend Kinder, für die wir dann bezahlen müssen.“ Ich bin irritiert. Der Junge ist nett, macht einen Knochenjob, ist heute um fünf Uhr morgens aufgestanden, um fremden Männern Schläuche aus den Schwänzen zu ziehen. Er arbeitet auf einer Intensivstation und hilft, Leben zu retten. Dennoch würden nicht wenige Menschen in Deutschland ihn jetzt einen Nazi nennen. Ich beschließe, das auch zu tun. Immerhin ist er der erste Nazi, dem ich persönlich begegne. Und außerdem ist er nett.

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